: Der Gebissene und der VfB
Das Spiel Dynamo Dresden - VfB Stuttgart (1:1) erwies sich der sächsischen Geschichte würdig ■ PRESS-SCHLAG
Der Sachse und der Schwabe haben manches gemein. In ihrem jeweiligen Staatswesen gelten beide als besonderer Menschenschlag mit ausgeprägter Eß- und barocker Baukultur sowie deutlichem Dialekt, der freilich nicht selten auf Ablehnung stößt. Ihre große Geschichte seit den Sachsen- und Stauffer-Kaisern brachte es denn auch mit sich, daß die alteingesessenen Familien Staatsmänner als Abkömmlinge hervorbrachten, die mit gewichtigen Namen aufwarten konnten
-Friedrich der Große von Hohenzollern sei hier nur genannt und August der Starke. Ein Jammer also, daß es das Schicksal zum Ausklang des zweiten Jahrtausends n. Chr. den Fuballsöhnen beider Stämme nicht vergönnte, das Endspiel des großen europäischen Fußballwettbewerbs auszutragen, sondern sie bereits im Halbfinale aufeinanderführte.
Gleichwohl zeigten sich die Kombattanten der geschichtsschwangeren Luft in der Sachsenmetropole und ihrer langen Liste trefflich titulierter Landesherren würdig. Allen voran Karl Allgöwer, der mit seinem unnachahmlichen Freistoßtor alle Zuschauer in die Zeiten Albrecht des Beherzten zurückführte, der in Dresden von 1486 bis 1500 äußerst gradlinig herrschte. Und wer von den 36.000 Zuschauern dachte nicht an Friedrich den Gebissenen (1307 -1324), wenn er den vom Teufel besessenen Dresdner Matthias Sammer zum Spielbeginn durch die feindlichen Linien wirbeln sah? Leider hatte der Leibhaftige unter den Dynamospielern keine weiteren Opfer gefunden, so daß die gesamte Mannschaft eher an Friedrich den Sanftmütigen gemahnte, der von 1428 bis 1464 an der Elbe residierte.
Ein Jahrtausendskandal schließlich, daß der österreichische Schiedsrichter zwar vorschriftsmäßig in der Farbe Heinrich des Frommen (1539-1541) angetreten war, aber überhaupt nicht bereit war, die ihm aufgetragene Rolle von August dem Gerechten (1763-1827) zu übernehmen. Was für eine Rechnung hatte dieser erlauchte Herr noch mit den Dynamo-Mannen des 20.Jahrhunderts zu begleichen, nach all dem, was Maria -Theresia den Sachsen in den Schlesierkriegen zu verdanken hatte?
Schließlich wäre da Asgeir Sigurvinsson, der seinen Part als Friedrich der Streitbare (1381-1428) offenbar mißverstanden hatte, einmal auf das Positive im Werk von Anton dem Gütigen aufmerksam zu machen. Andererseits hätte dem Schiedsrichter-Triumvirat etwas weniger Kleinlichkeit und ein wenig mehr von Johann Friedrich dem Großmütigen (1532-1547) angestanden. Ansonsten darf es sich nicht wundern, wenn es sich inmitten der Zuschauermassen einmal ganz wie Dietrich der Bedrängte (1195-1221) fühlen wird. Spaß beiseite - ab sofort wird der Chronist seinerseits in die Rolle von Friedrich dem Ernsthaften (1324-1349) schlüpfen.
Das Heerlager, das die Volkspolizei rings um das Dynamostadion veranstaltet hatte, erwies sich erfreulicherweise im Nachhinein als unnötig. Die Zuschauer zeigten sich auch angesichts der sich abzeichnenden Niederlage sowie der eklatanten Fehlentscheidungen des Schiedsrichters friedfertig und beließen es achselzuckend bei der Bemerkung „Südmilch ist eben doch besser als VEB Kaffee und Tee“.
In der Tat. Die besonders mit hohen Flanken in den stürmischen Dresdner Abendhimmel hinein operierenden Dresdner hatten in den „torgefährlichen Zonen“, wie es Trainer Eduard Geyer in der DDR-spezifisch treffenden Fußballersprache ausdrückte, gegen die „hochgewachsenen Schwabenköpfe“ keine Chance. Entscheidend war wohl der Ausfall des gesperrten Rechtsaußen Kirsten. Das ganze Spiel lief darob über links, und da herrschte nur einer: Der sehr ballgewandte, quirlige Stuttgarter Günter Schäfer wachte an der Kreuzung Mittel- zur Auslinie und ließ alle auflaufen. Gleichzeitig klärte er zweimal auf der Torlinie und wechselte sich mit Allgöwer im Bälleverteilen ab - am Mittwoch ein Wunderfußballer. Und nach dem furiosen Start, der eines Pippin dem Plötzlichen würdig gewesen wäre (in den ersten eineinhalb Minuten drei Eckstöße, ein Lattentänzer über dem Stuttgarter Immel und drei gelbe Karten), erlahmte der Dynamo und die beiden druckvollen Stuttgarter Spitzen Klinsmann und Gaudino stahlen mit ihrem „Umkehrspiel“ (DDR -Deutsch für Konter) dem Sturm um Matthias Sammer zunehmend die Show.
Froh sein durften die 600 mitgereisten VfB-Fans, die das sichere Weiterkommen nach Allgöwers Tor zum 1:0 in der 64. und Lieberams Ausgleich in der 83.Minute die Zehntausende in schwarz-gelb mit provokanten „Auf-Wiedersehen-Gesängen“ bedachten. In jedem Stadion zwischen Hamburg und München hätten sie übel Prügel bezogen. Wohl einzig die Tatsache, daß die DDR-Fans eher noch gesamtdeutsch denken und sich über jeden Erfolg einer bundesdeutschen Manschaft irgendwie freuen können, ließ sie am Mittwoch abend mit heiler Haut davonkommen. Ulli Kulke-Sauer
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