GESTAPELT, VERPLOMBT, VERMESSEN

■ Eröffnung des „Treppenhauses“ in Steglitz mit Paul Pfarr

Die Darstellungsformen der Wissenschaft haben die der Kunst ausgestochen. Während die gezeichnete Linie, wenn sie nicht als Kontur gebraucht wird, sondern in ihrer Niederschrift bloß als subjektive Spur des Lebendigen gemeint ist, noch immer mißtrauisch beäugt wird, vertraut man doch den im Zick -Zack nach oben und unten ausschlagenden Linien von Kardio und Elektroenzepahlogrammen (EEG). Den durch einen Apparat gefilterten und mit der Aura der Wissenschaftlichkeit festgehaltenen Strömen des Herzens und des Hirns glaubt man die Erfassung des Lebendigen. Die Medizin scheint mit ihren Messungen tiefer als die Kunst in die Geheimnisse des Lebens eingedrungen.

Die vibrierenden Linien der Hirnströme eines Affen umranden den Raum, den Paul Pfarr Joseph Beuys gewidmet hat. Pfarr, Sammler und Installationskünstler, verzichtet auf die Entwicklung einer eigenen Handschrift und auf die Erfinderrolle des Künstlers und bedient sich statt dessen vorgefundenen Materials. So verweist er in der Benutzung des 300 Meter langen EEGs auf Ausdrucksformen jenseits der Kunst, die sich längst als Zeichensprache in uns eingegraben haben. Die Lebenslinie des Affen umkreist einen Eisentisch, auf dem verplombte Karteikästen stehen, gefüllt mit Holzkohlenasche und Nachrufen auf Beuys. Die Einmaligkeit der Künstlerpersönlichkeit, von der eine Widmung auszugehen scheint, wird in der Vielzahl der Karteikästen aufgelöst, Individualität zersplittert in statistische Daten. Dies ist eine unsentimentale und sterile Erinnerung an einen Tod und ein Leben - und doch entsteht zwischen dem nüchternen Tisch und den zitternden Linien eine eigene Spannung. Im EEG versucht der klinische Blick die Hirnschale zu öffnen, direkt den Finger auf die vibrierenden Nerven zu legen, in den Körper des Lebendigen einzudringen - in den Karteikästen dagegen liegt alles hermetisch verschlossen, uneinsehbar von außen.

In dem Treppenhaus, das mit Paul Pfarrs Installationen zum ersten Mal als Kunstraum genutzt wird, finden die graphischen Linien der Hirnstörme des Affen eine Entsprechung in den Adern, die den Travertin durchziehen, mit dem der Beton verkleidet ist. Die häßlichen Wände selbst beginnen zart zu pulsieren. Diese ästhetische Korrespondenz ist Zufall, denn Pfarr hat seine „Widmung für Beuys“ konzipiert, bevor er in dem Treppenhaus den idealen Ort dafür entdeckte. Aber gerade in solchen Zufällen, die den Blick auf Unscheinbares verändern, entsteht der Reiz der sich auf den Ort einlassenden Installationen.

Das Treppenhaus an der Autobahn wurde von dem „Steglitzer Förderverein Schwartz'sche Villa“ entdeckt und als zukünftiger Kunstraum gewählt. Der Verein, der sein erstes Ziel, Erhaltung und Restaurierung der Schwartz'schen Villa für kulturelle Zwecke, erreicht hat, suchte nach weiteren Orten, um die Steglitzer Provinz zwischen Innenstadt und Dahlem aus ihrem Dornröschen-Schlaf zu wecken. Die alljährlichen Versuche des Kunstamtes mit den „Steglitzer Kunsttagen“ entlang der Schloßstraße (im September 1989 zum zehnten Mal), Kunst von Steglitzer Künstlern den Schaufenstern der Geschäfte einzuverleiben und Aquarelle zwischen farblich passenden Spitzenhöschen zu exponieren, nahmen sich eher niedlich aus. Die beiden Treppenhäuser, die nun zum Forum für zeitgenössische Maler, Bildhauer und Performer werden sollen, dienten als Aufgänge von der Autobahnunterführung in der Albrecht-Straße zu den Bushaltestellen an der Autobahn. Ihre Kälte ist symptomatisch für eine öffentliche Architektur, die den Faktor Mensch möglichst reibungslos durch den Verkehr schleusen will, ihm aber keine Räume zum Leben anbietet. Pfarrs „Monument für Berlin“ aus 800 gestapelten eisernen Transportkisten versperrt den Treppenabsatz. Spinnweben hängen schon zwischen den Griffen. Das Bewegliche ist festgefahren, vergessen. Seine Ordnung ist nutzlos. Der Inhalt der Kästen bleibt unkommentiert, vorrangig sind Normierung, Ordnung, Kontrolle. Der Betrachter kann sich gerade nur am Rand entlang quetschen.

An den Wänden stehen noch Parolen: „Solidarität mit der RAF“, „Zerschlagt die Nato-Faschisten“, „Es lebe das Kommando Patisi O'Hara - Erschießt viele Zimmermänner!“, „Apartheid-Stop. Kämpft auch hier. Freiheit für Nelson Mandela“. Es ist eigenartig, wie diese Zeugnisse eines an den Rand gedrängten politischen Kampfes und einer abgeschmetterten Kommunikation jetzt von der Kunst vereinnahmt und zu ihrer Stärke werden. Die vorgefundene Not politischer Artikulation füllt einen Mangel der Kunst an Brisanz auf. Ebenso beginnt man hier, das Rauschen der Stadtautobahn, das Wummern der Preßlufthämmer und den alles überdeckenden Staub der Baustelle als Merkmale der Authentizität zu schlucken.

Katrin Bettina Müller

„Berliner Monument“ und „Widmung für Beuys“ von Paul Pfarr im „Treppenhaus“, Albrecht-Straße 129, Steglitz, bis zum 15. Mai, Di-Fr 15-19, Sa 10-16, So 15-19 Uhr.