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Lob der Schulklassen

■ In Ost-Berlin geht das 2. Theaterfestival der DDR über die Bühne

Wer an Theater in der DDR denkt, dem fällt zuerst Heiner Müller ein. Schon beim ersten DDR-Theaterfestival vor zwei Jahren war es denn auch ein 30 Jahre altes Stück von Müller, das Furore machte: „Die Umsiedlerin“. Diesmal ist es wieder Müller, „Der Lohndrücker“, wieder ein Stück aus den fünfziger Jahren. Und der zweite Gedanke gilt den Weggegangenen; Alexander Lang, Einar Schleef, B.K.Tragelehn, Langhoff, Dresen, Gosch - alle arbeiten längst im Westen. Heiner Müller, das „Kuckucksei im Staatstheaternest“ ('Theater heute‘), scheint einer der Letzten im Lande. Immerhin wird seine „Wolokolamsker Chaussee“ jetzt peu a peu auf DDR-Bühnen in Szene gesetzt. Also doch eine Öffnung im Zuge von Glasnost? Andererseits wurde noch im vergangenen Jahr die deutsche Ausgabe der sowjetischen Zeitschrift 'Neue Zeit‘ mit dem Abdruck eines Stücks von Victor Schatrow „Weiter ... weiter ... weiter“, eine Stalin-Abrechnung, nicht ausgeliefert. Daß die DDR-Bühnen-Produktion dennoch mehr zu bieten hat als nur Müller-Stücke und langweilig Etabliertes, ist dieser Tage in Ost-Berlin zu entdecken.

Vor zwei Jahren, im Januar 1987, fand in Ostberlin das erste Nationale Theaterfestival der DDR statt. Die Veranstaltung, eine Mammutschau mit 46 Inszenierungen, war ein voller Erfolg. Dieses Jahr nun die erste Fortsetzung. Fünfundzwanzig Produktionen werden in den Tagen zwischen dem 15. und dem 24. April gezeigt. Das Programm ist also zusammengeschrumpft, dennoch werden auch diesmal, anders als beim Westberliner Theatertreffen, nicht nur Sprechtheaterstücke gezeigt. Am vergangenen Sonntag mußte man sich entscheiden, ob man ein Theaterstück (Volker Brauns Übergangsgesellschaft), ein Ballett (Adams Giselle) oder eine Aufführung des Leipziger Kabaretts 'Pfeffermühle‘ (Auf dich kommt es an, nicht auf alle) ansehen wollte. Daneben gibt es noch Opern (Ruth Berghaus‘ Inszenierung von Schönbergs Moses und Aron, Händels Rinaldo, inszeniert von Peter Konwitschny, Alexander von Zemlinskys Kleider machen Leute in der Inszenierung von Klaus Kahl, Das Gastmahl von Georg Katzer und Gerhard Müller, inszeniert von Erhard Fischer, eine Arbeit der Staatsoperette Dresden: Webbers Evita, in Szene gesetzt von Walter Niklaus, Puppen- und Jugendtheater.

Alles aufzuzählen hat keinen Sinn. An Glanzlichtern fehlt es nicht. Natürlich zählt dazu Der Lohndrücker von Heiner Müller, inszeniert von Heiner Müller, eine Produktion des Deutschen Theaters Berlin (siehe Kasten). Das Maxim Gorki-Theater bringt Volker Brauns Übergangsgesellschaft in der Inszenierung von Thomas Langhoff. Beide Arbeiten werden auch beim Westberliner Theatertreffen zu besichtigen sein. Interessante, faszinierende Produktionen, die zum Vergleich geradezu herausfordern.

Dennoch, heute, Donnerstag Morgen, sorgte ausgerechnet der alte Brecht für die aufregendste und anregendste Inszenierung: Das 3. Studienjahr der Hochschule für Schauspielkunst Ernst Busch Berlin hat Der gute Mensch von Sezuan auf die Bühne gebracht - drei Stunden lang keine Sekunde Langeweile.

Nie hätte ich gedacht, daß so viele Funken aus einem so morschen Holz wie diesem 'guten Menschen‘ zu schlagen sind. Peter Schroth und Peter Kleinert, die beiden Regisseure und Professoren der Hochschule, haben jede Spur orientalischer Lethargie aus dem Stück weginszeniert, jedes Element jener betulichen, sich den langen Bart streichenden brechtisch -chinesischen Sprücheklopperei gestrichen, das die gewohnten Inszenierungen des Stückes so unerträglich macht.

Aber das stimmt nicht ganz. Ein Element davon, eine Spur von dem anderen blieb da, aber homöopathisch dosiert, also gut und effektvoll.

Die Schauspieler sind voll bei der Sache. Sie lassen sich nicht in bestimmten Gesten und Klängen nieder wie in gemütlichen Fauteuils, um von dort aus den Abend an uns und an sich vorüberziehen zu lassen. So bin ich es von unseren großen Theatern gewohnt. Sowie der Ton und das Bühnenbild gefunden sind, hat es mit den Plagen der Regie ein Ende. Je müder alle Beteiligten werden, desto gewisser handelt es sich um Kultuuuur.

Einige Inszenierungen der DDR-Theater waren bei ihrem Kampf ums 'Weltniveau‘ erfolgreich genug, diesen Stil aufgeblasener Langeweile auch im Reich der Arbeiter und Bauern zu etablieren. Man wird mir nicht verzeihen, daß ich hier Alexander Lang an erster Stelle nenne. Die Schauspielschüler aus der Ernst Busch-Schule in Ostberlin haben dagegen vorgeführt, wie man ein eigenes Weltniveau setzt. Ohne den starren Blick auf die großen Namen, ohne die großen Vorbilder.

Das ist ein Verdienst der Regie, einer unermüdlich fleißigen, einfallsreichen, vituosen Regie, die es versteht, die Schauspieler einzusetzen, ihre Stärken und Schwächen zu nutzen für ein hellwaches, intelligent-vergnügliches Theater.

Da sind aber auch die hervorragenden Schauspieler, denen die Lust am Spielen anzusehen ist. Die Darstellerin der Shen Te, Claudia Michelsen, wird sicher bald sehr bekannt sein. Sie hat nicht nur das Glück einer großen darstellerischen Begabung - mit enormer Bandbreite -, sondern sie verfügt auch über das kleine bißchen mehr, das die eigentliche Garantie einer glücklichen Schauspielerlaufbahn ist: sie weckt Sympathie. Daß die drei Götter in ihr den guten Menschen entdecken, scheint dem Zuschauer nur zu verständlich. Schließlich hatte sie ihn nach nur zehn Minuten schon um den Finger gewickelt. Daß er ihr nicht wieder entwischt, dafür sorgt ihr Spiel: springlebendig, hochintelligent und fesselnd auch in den schwierigen, leisen Momenten.

Wolfgang Engels Dresdner Inszenierung von Anatomie Titus, Fall of Rome - Ein Shakespearekommentara ist einer der weiteren Höhepunkte des Festivals. Shakespeares Titus Andronicus ist eine der blutigsten Geschichten der Theaterliteratur. Politik als schöne kunst des Metzgerns. Heiner Müller hat den klassischen Text 1983-85 bearbeitet und dieser Neufassung den eben erwähnten Titel gegeben. Die Geschichte vom Kampf um die Kaiserkrone des römischen Reiches spielt in Wolfgang Engels Bühneneinrichtung allerdings keine Rolle; und wer unterwegs den Faden verliert, dem wird von der Bühne aus zugerufen, er habe schon verstanden.

Engels wichtigster Regieeinfall: statt vor die Kulissen des antiken Roms führt er uns in ein Klassenzimmer. Die Personen des Stücks sind Schüler. Aber Engel läßt sie nicht etwa das Stück aufführen, er erspart uns den dummen Dopplereffekt. Nur der Raum macht die Schauspieler zu Schülern: Manchmal sagen sie ihre Texte auf, als würden sie Auswendig Gelerntes abgefragt, fast alle Monologe sind Ansprachen vor einer Schulklasse. Eine Konstellation, die dem Text alles, was nach Pappe und Schule stinkt, paradoxerweise nimmt - Engel führt uns in die Kunst ein, einen Fehler durch dessen Verstärkung unschädlich zu machen.

Bei den blutigen Metzeleien ist der Regisseur umgekehrt vorgegangen. Wer getötet wird, zieht ein rotes Taschentuch aus dem Kragen und fällt um. Still und abrupt. Es tut seine Wirkung. Wenn ein menschlicher Körper plötzlich in der Mitte einknickt und wie zusammengefaltet über einer Bank hängenbleibt, greift das, so slapstickartig es sich anhört, die Nerven unmittelbar an. Blutigen Horror pur kann man seit den entsprechenden Hollywoodproduktionen - vielleicht tatsächlich nicht mehr auf der Bühne zeigen: Der strenge Ketchup-Geruch würde im Theater alles nur noch bizarrer wirken lassen. Jedenfalls würde das Grauen, das sich bei dieser Art Politik doch einstellen muss, den Zuschauer nicht erreichen. Wenn dagegen der Niedergemetzelte sein Blut - das rote Taschentuch - selbst hergeben muß, wird die Szene wirklich unerträglich und erzeugt genau den Abscheu, um den es ja geht.

Engel verzichtet auf das sonst in diesen Stücken übliche minutenlange, heisere Gebrüll, das nur dem Ohr wehtut und sonst keine Wirkung hat - zumindest in der ersten Hälfte. Nach der Pause gibt es dann doch ein wenig von dieser Unart. Aber der ständige Wechsel, die Stimmbandakrobatik, feiert nie sich selbst, sondern hat immer eine Stütze im Text. An nur wenigen Stellen dieser Inszenierung wird nach dem Schema verfahren: erst brüllen, bis der Kopf rot anschwillt, dann runter mit der Stimme und zartes Geflüster. Die Virtuosen des Gewerbes pflegen dies als l'art pour l'art, Engel erspart uns solche Selbstverliebtheit.

Engels Inszenierung ist das Zeugnis einer freien, spielerischen, ihrer selbst und ihrer Mittel bewußten Intelligenz; wer wissen will, was Theater möglich macht, der muß sich diesen Titus ansehen. Es gehört zu den Mirakeln des Festivalbetriebs, daß wir diese Arbeit beim Theatertreffen in Westberlin nicht zu sehen bekommen.

Am Wochenende folgen noch: Der Meister und Margarita von Heinz Czechowski nach Bulgakow, Volksbühne, Ostberlin, Regie: Siegfried Höchst. Friedo Solters Mammutlessingprojekt am Deutschen Theater - Philotas und Nathan der Weise - eigentlich für einen Abend konzipiert, werden auf Sonntag und Montag verteilt. Und am Samstagabend - ich bin gespannt

-Ruth Berghaus‘ Version von Schönbergs Moses und Aron.

Arno Widmann

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