Nicht-staatliche Nadelstiche

■ Auch in Ost-Berlin gibt es einen Tätowierer / Der ist billiger als die Konkurrenz im Westen und auch Anlaufstelle für die westlichen Tattoo-Fans / Eine offizielle staatliche Genehmigung gibt es nicht

Während bei uns die Tattoo-Welle rollt, die Lust auf die Kunst am Körper um sich greift und das Bild auf dem Arm, der Schulter oder dem Rücken sich anschickt, gesellschaftsfähig zu werden, ist jenseits des antiimperialistischen Schutzwalls an eine derartige Ausbreitung nicht zu denken. 1965 gab es in der DDR den letzten offiziell genehmigten Tätowierer-Laden. Heute wird das Pikern von staatlicher Seite nicht mehr akzeptiert.

Die Tattoowelle entwickelt sich natürlich trotzdem, nur in einem sehr viel kleineren Rahmen als bei uns. Zurückzuführen ist das nicht nur auf den staatlichen Knebel, sondern auch auf das schwierige Beschaffen der nötigen Ausstattung. Derzeit gibt es in Ost-Berlin nur einen Tätowierer, der durch handwerkliches Können diese Monopolposition erlangte. Der Mann vom Fach heißt Otto und ist 25 Jahre alt. Er lebt und arbeitet in einem Hinterhaus im Bezirk Prenzlauer Berg, in der Szene also.

Angefangen mit den Tattoos hat er vor neun Jahren. Die damals noch mit einer selbstgebastelten Nadel per Hand vollzogene Prozedur kam einer mittleren Operation gleich. Für ein handtellergroßes Bild nahmen Willige bis zu zehn Stunden Malträtur in Kauf. Und auch die verwendete Farbe, zum Beispiel Ausziehtusche, trug nicht zur Versüßung der Qualen bei: Nach einigen Jahren verblaßten einzelne Farbtöne fast vollständig.

Später dann rüstete Otto um. Er konstruierte Maschinen, mit deren Hilfe sich der Zeitaufwand reduzierte. Trieb vor vier Jahren noch der unhandliche Pumpenmotor einer Waschmaschine die Nadel an, ist es heute ein Rasierapparat. Über West -Kontakte erhielt Otto spezielle Nadeln und die qualitativ besseren Chinafarben.

Auch die in Ost wie West gefragten Motive wie Rosen, Adler, Totenköpfe und Drachen gelangten über die Grenze. Gerne arbeitet Otto heute nicht mehr mit diesen Standard-Vorlagen. Nachdem er viele davon schon mehrere Male verwendet hat, bevorzugt er eigene Zeichnungen, die er nach den Ideen der Kunden entwirft.

Prinzipiell tätowiert er weder Hände noch Gesicht. Und auch für Fascho-Motive gibt er sich nicht her. Daß er das auch gar nicht nötig hat, liegt an seinem Status und an seinen etwa um ein Drittel billigeren Preisen, die inzwischen sogar Westler ins sozialistische Nachbarland führen.

Bleibt in Zeiten von Aids noch der brisante Aspekt der Desinfektion zu erwähnen. Das Ideal westlicher Reinigungsmethoden, Ultraschall, ist in Ost-Berlin natürlich nicht anzutreffen, doch erfüllt auch Alkohol seinen Zweck. Und davon herrscht bekanntlich kein Mangel im Arbeiter- und Bauernstaat.

Ursula Ufo