: Was der Neger frißt, brauchen wir nicht zu entsorgen
Verstrahlte Nahrungsmittelhilfe der Europäischen Gemeinschaft in die Dritte Welt / Einige Länder wehren sich mit niedrigen Grenzwerten / Verdacht auf Falschdeklarierung / EG setzt die Empfänger unter Druck und droht mit Entzug der Nahrungsmittelhilfe / „Wir sollten nicht freiwillig verseuchte Lebensmittel importieren“ ■ Von Wieland Giebel
Als Mohamed Osman in seinem kleinen Laden in Nyala im Sudan das holländische Milchpulver von IMEKO verkaufte, konnte er nicht wissen, daß es radioaktiv belastet war. Daß das Milchpulver auf dem Markt von Sao Vincente auf den Kapverdischen Inseln mit 43 Becquerel Cäsium pro Kilo strahlte, stand nicht auf dem Sack, der als „Geschenk der Schweiz“ geliefert wurde. Und von den 115 Bq/kg, mit denen das Milchpulver der EG-Nahrungsmittelhilfe in El Salvador kontaminiert war, konnten selbst vorsichtige Mütter nichts ahnen. Als Herstellungsdatum auf der Tüte aus Nordirland war der Januar 1986 angegeben - Monate vor Tschernobyl.
Entwicklungshelfer von „Dienste in Übersee“ hatten die Lebensmittelproben nach Deutschland geschickt, wo sie von der „Gesellschaft für Strahlenmeßtechnik“ in Münster gemessen wurden.
Daher stammen die Einzelmessungen von Märkten der Dritten Welt. Dort wird Milchpulver aus den 25-Kilogramm-Säcken in Ein-Kilo-Packungen umgetütet und in der Regel ohne Herkunftsangabe verkauft oder über die Ernährungsprogramme verteilt. An die Kinder der Ärmsten der Armen, an die Schwächsten, an die Hungernden, die durch die Strahlung zusätzlich belastet werden. Ein Trainingsprogramm für das „survival of the fittests“.
Allgäuer Alpenmilch
nach Kamerun
Alle sieben Milchpulverproben aus Thailand waren kontaminiert. „For free distribution“ erhielten die Kinder in Gedaref im umkämpften Gebiet des Sudan ihre Milch - mit 60 Bq/kg. Auf den Säcken ließ sich weder ein Herstellungs noch ein Haltbarkeitsdatum finden. Lateinamerika, Afrika und Asien wurden gleichmäßig bedient. Kontinente, die durch den Fallout Tschernobyls kaum belastet wurden, wo die Strahlung 1:1.000 verdünnt war.
Kommerzielle Exporte stehen den EG-Geschenken nicht nach. Die Allgäuer Alpenmilch AG entsorgte unter dem Nestle -Markennamen NIDO „under agreement with the trademarks owner“ Milchpulver mit 46 Bq/kg in dem kleinen Ort Marona im Norden Kameruns. „La vache qui rit“, die französische Kuh lachte sich eins über den Grenzmarkt zwischen Guinea Equatorial und Kamerun, wo der Becquerel-käse losgeschlagen wurde. Holländische Kühe mit prallen Eutern leuchten von der Dose Vollmilchpulver, mit der der Mocca in Mogadishu kontaminiert wird - 24 Bq/kg.
Wieviel Tonnen verstrahlter Lebensmittel in die Dritte Welt abgesetzt wurden, läßt sich nicht berechnen, EG-Zahlen sind nicht erhältlich. Wenn man davon ausgeht, daß zehn bis 20 Prozent der EG-Milchproduktion von 1986 erheblich kontaminiert war, sind es zehn bis 20 Millionen Tonnen. Dazu kommen dann alle anderen Lebensmittel, besonders Getreide und Fleisch, die ebenfalls belastet sind.
500 Tonnen Milchpulver
nach Jamaika
Auf die Empfänger der Nahrungsmittelhilfe wurde erheblicher Druck ausgeübt, die europäischen Grenzwerte zu akzeptieren. Als Jamaika 500 Tonnen Milchpulver zurückgeben wollte (durchschnittlich 284 Bq/kg), drohte der zuständige EG -Beauftragte Klaus Billerbeck, es sei zweifelhaft, ob Jamaika dann wieder Nahrungsmittelhilfe (im Gesamtwert von 100 Millionen Mark) erhalte. Denn es sei das einzige Land, das die Hilfslieferungen zurückweise. Alle anderen hätten die EG-Grenzwerte akzeptiert, „die übrigens dieselben sind, die 320 Millionen Europäer akzeptiert haben“. Eine doppelte Lüge: nicht nur, daß die EG-Grenzwerte hier nicht akzeptiert wurden. Das Europa-Parlament fordert Orientierungswerte für Milch von höchstens 100 Bq Cäsium pro Kilo, für andere Lebensmittel 125 (statt zur Zeit 370/600) und klagt um diese Werte gegen die Kommission der Gemeinschaft vor dem Europäischen Gerichtshof, die auf 1000/1250 erhöhen will. Das war übrigens das erste Mal, daß im EP ein Gesetzesentwurf gekippt wurde.
Auch eine Reihe von Ländern der Dritten Welt legten ihre Grenzwerte unabhängig fest. Einfach machten es sich Brunei, Burma, der Iran und Singapur: Sie fordern Null-Belastung. Die Philippinen, Thailand und Sri Lanka haben Grenzwerte unter 20 Bq/kg. Deutsche Strahlenmesser, von den besorgten Eltern mehr und mehr im Stich gelassen, verdanken ihre Arbeitsplätze heute der Angst dieser Länder: Die Lebensmittelexporteure müssen Zertifikate beilegen, aus denen hervorgeht, daß die Lebensmittel unbelastet sind. In den Öl-exportierenden Golfstaaten fordern Saudi Arabien, Kuweit und Katar niedrige Belastungen und kontrollieren streng. Aber auch in einigen armen Entwicklungsländern steht die Gesundheit der Bevölkerung vor dem EG-Druck. Die Sowjetunion und die osteuropäischen Staaten teilen dagegen die Sicherheitsideologie der EG und damit auch die Grenzwerte.
Innerhalb der EG gibt es keine Höchstwerte. Ein Reh aus dem Emsland mit 2.000 Bq/kg kann also auf den Markt gebracht werden. Dasselbe Reh würde zurückgewiesen, wenn es aus der DDR stammt. Die Bundesregierung sieht für eine Regelung dieser „Exotika“ keinen Handlungsbedarf, antwortete sie der Grünen Lilo Wollny.
Noch sind nicht alle verstrahlten Lebensmittel unters Volk gebracht. Griechenland hat das Problem, 600.000 Tonnen Hartweizen mit bis zu 2.500 Bq/kg radioaktiver Belastung loszuschlagen. Durch Dürreverluste sind die Weltgetreidevorräte auf den niedrigsten Stand seit der Welternährungskrise in den siebziger Jahren geschrumpft. Ein günstiger Moment für die EG-Kommission, den subventionierten Getreide-Exporten diesen Weizen so unterzumischen, daß die Höchstgrenze von 600 Bq/kg Cäsium nicht überschritten wird. Frankreich übernahm mit 300.000 Tonnen die Avantgarde.
Die Gunst der Stunde nutzte auch die deutsche Entsorgungstechnik. Mit dem Molkepulver, für Ägypten bestimmt und mit 1.200 bis 1.700 Bq/kg belastet, wurde nicht so verschwenderisch umgegangen wie in Österreich. Dort kippte man alles in die Donau - zurück zum Russen. Nach Töpfers Devise: Den Dreck, den wir machen, entsorgen wir auch selbst - und werden Nummer eins in der Entsorgungstechnik, werden die 7.000 Tonnen in Lingen mit einem Aufwand von 30 Millionen Mark auf 50 Bq/kg dekontaminiert und anschließend verfüttert. Niemand sonst war so clever.
Um in Zukunft die EG-Grenzwerte weltweit durchzusetzen, macht sich die neue Exportverordnung für Nahrungs- und Futtermittel die alte Philosophie zueigen. Was wir unseren 320 Millionen zumuten, kann auch für den Rest der Welt nicht schädlich sein: Exportiert werden darf, was nicht über die Grenzwerte geht und falls ein Drittland niedrigere Grenzwerte hat, regelt der freie Handel das Problem.
Neben wirtschaftlichem und politischem Druck wird aber auch mit Fälschungen gearbeitet. Der Verdacht liegt nahe bei dem eingangs erwähnten „Mourne-Maid„-Milchpulver aus Nordirland für El Salvador mit 115 Bq/kg. Als Herstellungsdatum dieses EG-Geschenks ist der 27.Januar 1986 vermerkt, genau drei Monate vor Tschernobyl. Die Zusammensetzung der radioaktiven Nuklide weist eindeutig auf Tschernobyl hin. Seit sechs Monaten versucht die Euro-Grüne Undine von Blottnitz anhand der vollständigen Daten dieser Lieferung herauszufinden, ob gefälscht wurde und wer verantwortlich ist. Bis jetzt halten die Euro-Bürokraten dicht.
In einzelnen Ländern haben die verseuchten EG-Lebensmittel heftige Diskussionen ausgelöst. Zwei Länder, Brasilien und Venezuela, sollen hier beispielhaft herausgegriffen werden.
Brasilien
Weil ihre Säuglinge die Milch verweigerten, erbrachen und unter Schwindelanfällen litten, kamen brasilianische Mütter in die Ernährungsberatungsstellen. Bis zu 2.500 Bq/kg Trockenmilch wurden Anfang 1987 gemessen. Regierung und Unternehmerverbände wußten, daß bis dahin 30.000 Tonnen Milchpulver und 5.000 Tonnen Fleisch verteilt worden waren. Monatelang gab es Artikel, Sendungen, mehrere Parlamentsanfragen. Der im September 1986 festgelegte Grenzwert von 3.700 Bq/kg wurde im Januar auf 1.300 zurückgenommen (inzwischen EG-Werte). Hochbelastete Lebensmittel kamen vor allem aus Österreich und Irland. Der Direktor des Verbraucherschutz-Amtes: „Absurd, was hier passiert. Europa mußte Richtwerte willkürlich festlegen, weil eine Notsituation eingetreten war. Wir sollten nicht freiwillig verseuchte Lebensmittel beziehen.“ Dagegen äußerte Dr. Celso Orsino, Mitglied der brasilianischen Strahlenschutz-Kommission: „Die Richtwerte in Europa sind ungefährlich für die Gesundheit.“
Venezuela
Auslöser waren Presseberichte über kontaminierte Lebensmittel in anderen Ländern und die Ankunft von 22.500 Tonnen Milchpulver. Im Dezember 1986 bildete sich eine Gruppe von Wissenschaftlern und Eltern: Verbraucher des Milchpulvers seien Kleinkinder, Kranke und Unterernährte. Aus der Presse wurde auch bekannt, daß Gesundheitsministerin Süssmuth in Bremen 500 Tonnen Milchpulver mit 1.800 Bq/kg aus Österreich beschlagnahmen ließ, das als Viehfutter nach Venezuela gehen sollte. Frau Süssmuth traute dem nicht. 1987 importierte Venezuela die Rekordmenge von 80.000 Tonnen preiswerten Milchpulvers, die veröffentlichten Messungen lagen angeblich immer unter 55 Bq/kg. Gleichzeitig exportierte das Land aber selbst unverseuchte Milch und Milchprodukte, um Devisen für die Schuldentilgung zu erwirtschaften.
Aber warum regen sich diese Länder eigentlich auf? Prof. Anton Bayer vom Institut für Strahlenhygiene des Bundesgesundheitsamtes weiß Rat. Er sagte im Januar dieses Jahres: „Die Aufnahme von radioaktiven Substanzen war von vornherein auf ein gesundheitlich unbedenkliches Maß begrenzt. Man braucht sich keine Sorgen um die Radioaktivität in Lebensmitteln zu machen. Nein, auch für Stillende, Schwangere und Babys muß man keine spezielle Vorsorge treffen. Alle diese Gruppen können ohne Angst die Lebensmittel verzehren, die auf dem Markt sind.“
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