Jahrestag in Portugal - ein Land übt sich im Vergessen

Tausende feierten den 15.Jahrestag der Nelken-Revolution, während die Parteien dabei sind, die revolutionäre Verfassung umzuschreiben  ■  Aus Lissabon Martinus Schmidt

Donnerstag, kurz nach Mitternacht. Um 0.25 Uhr spielt der katholische Radiosender „Renascen?a“ Jose Afonsos verbotenes Lied: Grandola Vila Morena. Es ist das Zeichen zum Losschlagen für die Bewegung der Streitkräfte (MFA). Um 3.00 Uhr sind der Flughafen in Lissabon und Fernsehen und Rundfunk eingenommen.

Kurz nach 11 morgens Uhr gibt die MFA bekannt, daß sie vom Norden bis zum Süden des Landes die Lage unter Kontrolle hat. Zur Verteidigung des Castano-Regimes rührt sich kaum eine Hand. Nur die Geheimpolizei PIDE/DGS, aus deren Folterkammern Hunderte von politischen Gefangenen befreit werden, eröffnet das Feuer und tötet fünf Menschen an Camoes -Platz. Die Bevölkerung, obwohl von der MFA gebeten, in den Häusern zu bleiben, sammelt sich zu Tausenden auf den Straßen und stopft den Soldaten rote Nelken in die Gewehrläufe.

So begann am 25.April 1974 die portugiesische Revolution.

Danke, Otelo

15 Jahre später sitzt das „Gehirn“ der Nelkenrevolution, mit der Europas älteste Diktatur kurzerhand weggefegt wurde, im Gefängnis. Artillerie-Major Otelo Saraiva de Carvalho, taktischer Koordinator des Unternehmens und in den eineinhalb Jahren danach zeitweilig mächtigster Mann im Staat, wurde vor fünf Jahren unter dem Verdacht, die terroristische Vereinigung FP-25 gegründet zu haben, verhaftet und ist seitdem in Untersuchungshaft. Zum 15.Jahrestag gibt es eine breite Kampagne für seine Freilassung, prangen in den Straßen Lissabons Plakate: Danke, Otelo! („Obrigado, Otelo“), und am Rande der Parlamentsdebatte um die Revision der Verfassung forderte der Abgeordnete dos Santos, Unabhängiger in der Fraktion der Regierungspartei PSD („Sociais-Demokratas“), die Amnestie Otelos, der nach seiner Meinung „für kein konkretes Verbrechen“ verantwortlich gemacht wird. „Ohne ihn wäre ich nicht Abgeordneter noch würde diese demokratische Versammlung existieren“, rief der angesehene Rechtsanwalt aus Porto letzten Mittwoch im Lissaboner Parlament aus.

Kurzes Gedächtnis

Der Abgeordnete sprach damit einen wunden Punkt der portugiesischen Gegenwart an. Die Tatsache, daß erst die revolutionären Ereignisse seit dem 25.April politische Freiheit und Demokratie brachten, möchten manche der heutigen selbstverständlichen Demokraten eher vergessen machen. So ist auch der 25.April als Staatsfeiertag für die PSD-Regierung eher eine Pflichtübung, während Salazar, autokratischer Herrscher von einst, im öffentlichen Bewußtsein fast schon wieder „persona grata“ ist - oder, wie eine Umfrage unter Jugendlichen ergab - eine unbekannte Größe. Viele Jüngere wissen mit seinem Namen nichts anzufangen, und viele Ältere versichern einem ernsthaft, unter Salazar seien die Straßen sauberer gewesen und die öffentlichen Verkehrsmittel nicht dauernd durch Streiks lahmgelegt worden.

„Die Revolution ist zu Ende“

Viel eifriger sind Premierminister Anibal Cavaca Silva und seine PSD, die bei den Parlamentswahlen 1987 die absolute Mehrheit errang, bei der Überarbeitung der noch aus „der heißen Phase“ stammenden Verfassung von 1976. Waren schon bei der letzten Änderung 1982 die Kompetenzen des Präsidenten der Republik beschnitten, der Revolutionsrat abgeschafft und durch ein Verfassungsgericht ersetzt worden, so geht es jetzt um die Anpassung der im Prinzip sozialistischen Verfassung an die ökonomische Wirklichkeit.

Denn die Landreform oder „nicht mehr rückgängig zu machende Nationalisierungen“ - beides Bestimmungen aus der 76er Verfassung - waren tatsächlich schon lange dabei, rückgängig gemacht zu werden, und von einer (ebenfalls im 76er Text vorgesehen) marxistischen „Planwirtschaft“ kann in Portugal, das seit 1986 der EG angehört, keine Rede sein. Im Gegenteil: Der erste große Brocken der geplanten Privatisierungen, der Bierkonzern Unicer, geht in diesen Tagen an die Börse. Schon seit Wochen sind Unicer-Anteile zum Vorzugspreis erhältlich. 49 Prozent des Staatsunternehmens sollen so abgestoßen werden. Als nächstes stehen die Banken und Versicherungen auf dem Privatisierungsfahrplan.

Das Ergebnis des seit einem Jahr arbeitenden Parlamentsausschusses Verfassungsrevision, das nun im Plenum beraten wird, faßt denn das Wochenmagazin 'Sabado‘ auch in dem Satz zusammen: „Die Revolution ist zu Ende!“

An der Verabschiedung des reformierten Grundgesetzes bis zum Juni bestehen kaum noch Zweifel, seit sich die PSD die dafür nötige Zwei-Drittel-Mehrheit durch ein Abkommen mit den oppositionellen Sozialisten (PS) gesichert hat. Einzelne PS-Abgeordnete wollen allerdings - wie die Fraktion der aus Kommunisten und Grünen gebildeten CDU (Coliga?ao Democratica Unitaria) - gegen das Reformwerk votieren.

Künftig kommunales Ausländerwahlrecht

Die PSD-Abgeordnete Assun?ao Esteves, eine der Mütter der neuen Verfassung, ist indes überzeugt, daß alle Parteien letztlich der neuen Konstitution zustimmen werden. Die 32jährige Juristin, promoviert im Widerstandsrecht und einst DAAD-Stipendiatin in München, nennt als wesentliche Vorteile des neuen Textes das erstmals in Portugal erscheinende Petitionsrecht, die Möglichkeit der Volksabstimmung zu einzelnen Gesetzen und das ausdrückliche Verbot der Kinderarbeit. Auch die Erweiterung der Bestimmungen für Umweltschutz und öffentliche Gesundheit sind nach Ansicht von Assun?ao Esteves „mehr Rechte“, die von den Revisionsgegnern nicht einfach ignoriert werden können.

Noch aber geht es bei den Abstimmungen zu einzelnen Artikeln, die am Donnerstag nach einer Woche Marathon -Debatten im Parlament begonnen haben, um Kleineres: etwa um ein kommunales Ausländerwahlrecht oder um die Unverletzlichkeit der Autorität nicht nur von Bürgern, sondern aller Personen in Portugal. Beides fand am Donnerstag eine breite Mehrheit in der „Versammlung der Republik“.