: Giftgasopfer appellieren an Gorbatschow
■ Armee soll eingesetzte Chemikalie benennen / Georgischer Gesundheitsminister spricht von mindestens zwei Toten / Insgesamt über 1.000 Verletzte behandelt, davon über 600 Vergiftungen / Neue Demonstrationen in Tiflis / Untersuchungskommission beginnt mit Arbeit
Tiflis, Berlin (afp/dpa/taz) - Bei dem brutalen Vorgehen von Militär und Truppen des Innenministeriums gegen friedliche Demonstranten in Tiflis am 9.April sind mindestens zwei Frauen durch den Einsatz von Giftgas ums Leben gekommen. Von den insgesamt 105 Menschen, die noch in Krankenhäusern liegen, leiden 63 an Vergiftungserscheinungen, zumeist Übelkeit, Erbrechen, Gedächtnisverlust und Kopfschmerzen. Bei 600 von über 1.000 Menschen, die insgesamt behandelt wurden, seien ähnliche Erscheinungen festgestellt worden. Diese Zahlen nannte gestern erstmals der georgische Gesundheitsminister Irakli Menargarischwili und widersprach damit deutlich den Moskau unterstehenden Sicherheitsorganen, die bislang bestreiten, daß unter den offiziell 21 Toten auch Giftgasopfer seien. Zum ersten Mal ist auch die Rede davon, daß der Giftgaseinsatz zum Militärgeheimnis erklärt worden sei. Nach Angaben hoher Militärs wurde „nur“ das Tränengas Tscheremucha verwendet.
Die georgische Delegation wollte auf der gestrigen außerordentlichen Sitzung des ZK in Moskau die Aufhebung des Militärgeheimnisses über die Zusammensetzung des Gases erzwingen, damit die Patienten endlich richtig behandelt werden können. „Es ist ein Verbrechen, daß die Militärs uns immer noch nicht sagen wollen, welche Substanz eingesetzt wurde“, sagte Professor Wachtang Botschurischwili am Montag in Tiflis. 26 noch in Krankenhäusern liegende Opfer haben in einem offenen Brief an Michail Gorbatschow appelliert, die Armee zu Angaben über die Zusammensetzung der Chemikalien zu zwingen und Gegenmittel zu schicken.
Augenzeugen sprechen inzwischen davon, daß Soldaten zum Teil Gasmasken trugen. Ärzte mutmaßen auch, daß die Soldaten vorher Gegenmittel eingenommen hätten. Gesundheitsminister Menargarischwili kritisierte außerdem, daß die sowjetischen Medien und besonders das nationale Fernsehen seine Erklärungen über den Einsatz von Giftgas und Spaten durch das Militär zensiert haben. Westliche Journalisten, die jetzt wieder in das Gebiet reisen dürfen, sahen an den Bäumen von Tiflis Listen über Parteiführer mit Angaben darüber aushängen, ob sie für oder gegen den Einsatz des Militärs votiert hätten. Ob darunter auch Moskauer Parteiorgane waren, konnte gestern aus Tiflis nicht mehr erfahren werden.
Für den gestrigen Nachmittag haben georgische Nationalisten erstmals wieder zu politischen Kundgebungen aufgerufen. Der neue Parteichef der Sowjetrepublik Georgien, Giwi Gumbaridse, hatte am Montag angedeutet, daß er die Demonstrationen dulden werde. Auf den Stufen zum Regierungspalast in Tiflis halten seit dem 10.April rund um die Uhr junge Leute mit schwarzen Flaggen eine Mahnwache. Die Stufen sind mit Blumen übersäht. Aus dem Blumenmeer ragen die Fotos der Getöteten, und an zwei Stellen sind blutrote Nelken zu georgischen Schriftbildern zusammengelegt: „Ewiges Gedenken den georgischen Patrioten“ und „9.April 1989“. Die gerade gebildete 40köpfige Untersuchungskommission der Regierung wird über 1.000 Experten und Zeugen vernehmen.
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