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„In Korrelation mit dem Supergau...“

■ Drei Jahre nach Tschernobyl veröffentlichen Bremer Wissenschaftler Studie zur Säuglingssterblichkeit

„Die Reaktorkatastrophe von Tschernobyl hat bezüglich der Säuglingssterblichkeit Auswirkungen auf die BRD gehabt.“ Betont vorsichtig formulieren die Bremer Wissenschaftler Michael Schmidt und Heiko Ziggel die Ergebnisse ihrer Untersuchung. Drei Jahre „danach“ ist die Situation in der Ukraine nach wie vor düster.

Als am 26. April 1986 der Reaktor in Tschernobyl durchbrannte, wurde das zweite Kind des Bremer Physikers Michael Schmidt gerade abgestillt. Wie die allermeisten Väter und Mütter entwickelte auch der junge Wissenschaftler eine besondere Sensibilität für die Katastrophe in der Ukraine. Und Schmidt blieb am Thema dran. Letzte Woche, knapp drei Jahre nach dem schwersten Unfall in der Geschichte des Atomzeitalters, legte der Bremer Doktorand gemeinsam mit seinem Kollegen Heiko Ziggel und unter Mitarbeit von Professor Jens Scheer seine „Untersuchungen zu den Auswirkungen der Reaktorkatastrophe von Tschernobyl“ vor - „die Säuglingssterblichkeit in der BRD“. Tenor der Arbeit: Die Reaktorkatastrophe von Tschernobyl hatte signifikante Effekte auf die Rate der Säuglingssterblichkeit in der BRD. Die Zahlenreihen begründen den Verdacht, daß in Bayern und Baden-Württemberg mehr Kinder gestorben sind als nach dem statistischen Kurvenverlauf zu erwarten war. Michael Schmidt zur taz: „Es gibt in Bayern und Baden-Württemberg eine klare Veränderung; woher sie kommt und wie genau sie mit Tschernobyl zusammenhängt, müssen weitere Forschungen zeigen.“

Die Rate der Kindersterblichkeit innerhalb der ersten sieben Tage gehört zu den wenigen statistischen Erhebungen, denen auch von kritischen Epidemiologen Aussagekraft zugestanden wird. Wenn überhaupt Soforteffekte durch die Reaktorkatastrophe in der BRD nachweisbar sind, dann sollten sie, so die Überlegung der Wissenschaftler, „am deutlichsten bei den nach Tschernobyl geborenen Kindern in Erscheinung treten“. Denn die pränatale Phase sei „die auf radioaktive Strahlung am empfindlichsten reagierende im menschlichen Leben“.

Der Bremer Studie wurden die Zahlen des Statistischen Bundesamtes über die Säuglingsgeburten und -sterblichkeit in den einzelnen Bundesländern zugrunde gelegt. Um die natürliche Schwankungsbreite zu reduzieren, wurden Dreimonats-Mittelwerte gebildet. Das heißt: Für jeden Monat wurden die Zahlen des Vor- und Nach-Monats dazugerechnet. Aus der Zahl der so erhaltenen Geburten wurde der Anteil der innerhalb der ersten sieben Tage gestorbenen Säuglinge im Verhältnis ermittelt. Die Größenordnung dieser Rechenoperation zum Vergleich: Für Baden-Württemberg pendelt die Geburtenzahl im Dreimonatswert zwischen 20.000 und 30.000, die Sterblichkeit etwa zwischen 50 und 100. Schmidt/Ziggel rechneten zurück bis 1975 und ermittelten aus den erfaßten Zahlen über zwölf Jahre als Näherungskurve (Regressionsgerade) eine abfallende Gerade. Diese Gerade steht für die in der Bundesrepublik zurückgehende Frühsterblichkeit der Säuglinge.

Bei einem Vergleich der Bundesländer zeigten sich nun unterschiedliche Abweichungen von der Geraden. So registrierten die Forscher

„im Frühjahr 1986 im Süden der BRD, genauer gesagt in den Bundesländern Bayern und Baden-Württemberg, eine deutliche Änderung. Der Zeitpunkt, an dem diese Änderung des Verlaufs auftritt, korreliert mit den Ereignissen in Tschernobyl. Der für die Jahre 1986 und 1987 regional unterschiedliche Verlauf der Säuglingssterblichkeitsraten (im Süden eine Änderung gegenüber dem Trend der Vorjahre - im Norden und der Mitte der BRD im wesentlichen eine Fortsetzung des Verlaufes) korreliert mit der regionalen Verteilung der durch die Reaktorkatastrophe von Tschernobyl verursachten radioaktiven Belastung der Luft, des Boden und der Nahrungsmittel in der BRD“.

Eine andere Erklärung für die Abweichungen, alternativ zur Katastrophe in der Ukraine, „konnte unsererseits nicht identifiziert werden“. Doch auch der Supergau selbst bietet verschiedene Ansätze, die erhöhte Kindersterblichkeit zu interpretieren. Neben der Strahlenwirkung könnten sich auch die massiven Ängste vieler Mütter ausgewirkt haben. Tschernobyl-Streß als Mitverursacher? Die Bremer Wissenschaftler stellen die radioaktive Strahlung und ihre „unbestreitbare biologische Wirkung“ in den Mittelpunkt. Allerdings seien weitere Forschungen notwendig, um die Wirkung der Strahlen auf die Neugeborenen klarer zu erfassen. Dazu müßte die Todesursache der früh verstorbenen Säuglinge untersucht werden, ihr Geburtsgewicht und auch die Zahl der Mißbildungen.

Herbe Kritik von der GSF

Schon im vergangenen Jahr, noch bevor auch nur eine Seite ihrer Studie veröffentlicht worden war, mußten die Bremer herbe Kritik einstecken. Vorab waren einige Fragmente und Interpretationen der noch laufenden Studie veröffentlicht worden. Die Münchner Gesellschaft für Strahlen- und Umweltforschung sah sofort „schwere methodische Fehler“ und bewertete die Arbeit als „absolut dilettantisch“. Hauptkritik: Die Autoren hatten anfangs Rheinland-Pfalz und Berlin gemeinsam mit Bayern und Baden-Württemberg zu einem gemeinsamen Hauptbelastungsgebiet zusammengefaßt. Schmidt und Ziggel nahmen die Kritik auf und berechneten Bayern und Baden-Württemberg gesondert, mit „klarem Ergebnis“ (Schmidt).

Die Bremer hoffen jetzt auf eine ehrliche Auseinandersetzung um ihre Studie. Doch da wird's schwierig. In der Zunft, die sich bereits darauf verständigt hat, daß Tschernobyl in der Bundesrepublik keine statistisch nachweisbaren gesundheitlichen Effekte verursacht hat, sind Schmidt und Ziggel Nobodies und Jens Scheer ein notorischer AKW-Gegner. Auch die donnernde Schlußbemerkung in der deutschen Fassung der Studie, die eine „Abschaltung aller Atomkraftwerke in Ost und West“ fordert, wird der Arbeit kaum zum Durchbruch verhelfen. Dabei wäre eine Diskussion abseits von Lager-Mentalitäten nötiger denn je, zumal ähnliche Untersuchungen des Bundesgesundheitsamtes (BGA) derzeit noch laufen.

Im Juli will das BGA den Abschlußbericht einer breit angelegten Befragung vorlegen. Über die Gynäkologen-Praxen der Bundesrepublik wurden bei dieser Studie die Ängste von Schwangeren nach Tschernobyl erforscht. 4.000 Fragebögen kamen zurück. In der Auswertung soll nach möglichen Zusammenhängen zwischen der Reaktorkatastrophe und der Frühgeburten gesucht werden.

Zu den Akten gelegt wurde dagegen die spektakuläre Untersuchung des Instituts für Humangenetik in Berlin. Nachdem dort eine erhöhte Rate von Mißbildungen (Trisomie 21) in Korrelation mit Tschernobyl ermittelt worden war, wurden zwar weitere Untersuchungen angekündigt, aber nicht durchgeführt.

Manfred Kriener

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