: Der Impuls der Empörung
■ Vortrag auf dem Teach-in der Tageszeitung
Christina Thürmer-Rohr
Teach-in der taz zu ihrem zehnjährigen Jubiläum: Tagespolitik und linke Perspektiven, Geschichte und Querelen eines alternativen Projekts. Allein der Vortrag von Christian Thürmer-Rohr setzte eine Zäsur. Die feministische Philosophin plädierte für eine Zeit des Silentiums, des Innehaltens und Erinnerns. Nur in der Reflexion auf die zerstörerischen wie beschämenden Erblasten unserer Kultur ist das Denken in die Zukunft möglich. Männer und Frauen aber haben einen unterschiedlichen Umgang, Zugang und Blick auf das Erbe. Frauen eröffnet sich die Chance - als bislang Ausgeschlossene oder mittelbar Beteiligte -, der Kontinuität einer Herrenkultur zu entkommen. Feministische Kritik muß sich qualifizieren als umfassende Kulturkritik, indem sie das Verhältnis dieser Kultur zu Frauen, anderen Rassen und Völkern und zur Natur zusammendenkt.
Ich kann hier keine Prognosen für die kommenden zehn Jahre liefern und erhebe auch nicht diesen Anspruch. Viele Überlegungen über zu erwartende Entwicklungen liegen vor. So wird sich das Modernisierungsdrama zuspitzen in den Verfahrensweisen, mit denen die sogenannten zivilisierten Gesellschaften ihre selbstproduzierten und exportierten Gefährdungen verwalten und vertuschen; sie werden sie soweit modernisieren und in den Griff bekommen müssen, daß die angesammelten Zerstörungsinstrumente ihr Werk zumindest nicht zu schnell und zu sichtbar tun, nämlich die vollständige Ruinierung von Mensch und Natur tatsächlich besorgen. Die industrielle Gesellschaft der sogenannten Moderne wird sich nicht einfach „umwälzen“, wie es oft heißt, indem sie sich von ihren zentralen ideologischen und materiellen Voraussetzungen verabschiedet, nämlich dem Verhältnis von Gesellschaft und Natur, dem Verhältnis von sogenannter Erster Welt und sogenannter Dritter Welt und dem Verhältnis der Geschlechter. In der Entwicklung dieser Ausbeutungsverhältnisse, dieser Erzfeindschaften und Vereinnahmungsnorm der weißen patriarchalen Kultur liegen wohl die aktivsten vulkanösen Herde der weiteren Jahre. Sie bergen nicht drei verschiedene und nebeneinanderliegende Sünden und Wunden, sondern sie gehören zusammen, sie entspringen den gleichen Herrschaftsansprüchen der abendländisch-christlichen und bürgerlichen Herrenkultur. Gleichzeitig sind die drei Objekte dieser Ausbeutungstraditionen keine gleichartigen Opfer. So ist die weiße Frau an der Ausplünderung von Natur, kolonialisierten Ländern und von sich selbst als Komplizin des weißen Mannes, als Ausführerin und partielle Nutznießerin seiner Machtinteressen immer auch beteiligt gewesen und beteiligt.
Das Bewußtsein, daß hier Lebewesen leben, die ein eigenartiges Leben und Lebensrecht haben, stellt mehr in Frage als eine antiquierte Denkgewohnheit, die ein halbwegs intelligenter Mensch mit etwas Einsicht und gutem Willen korrigieren könnte. Dieses Bewußtsein läßt sich nämlich nicht vereinbaren mit dem Orientierungsbild der ungehinderten Bewegungsfreiheit, der Privilegiensicherung, des Besitzanspruchs, des Verfügungsrechts, der Beurteilungskompetenz, der souveränen Welterklärung, der Doppelzüngigkeit, der „Autonomie“ im Sinne des Eingriffs, Zugriffs und Überbegriffs oder im Sinne der Egozentrizität , Selbstbezogenheit und „Selbstverwirklichung“, nicht vereinbaren mit dem Orientierungsbild der Maschine, auch nicht mit dem der Hoffnungsmaschine Computer, der das menschliche Hirn von seinen gefährlichen und unkalkulierbaren Eskapaden säubern und gleichzeitig dessen Glanz- und Präzisionsleistungen fortsetzen beziehungsweise überhöhen könnte. Auch diese Maschine kann dem Menschen die Herausforderung nicht abnehmen, nämlich seine Verantwortungen an niemanden delegieren zu können, auch nicht an die eigenen Produkte und Erfindungen.
Es geht - das mag immer wieder kitsch- und pathosverdächtig sein - um die Veränderung des gesellschaftlichen Verhaltens, die Veränderung der menschlichen Personen selbst, ihres Bewußtseins, ihrer von ihnen herumgetragenen Erblasten. In den drei Sprengsätzen dieser Kultur verbirgt sich die ganze Gewalt ihres anthropozentrischen, das heißt androzentrischen Erbes. Dieses Erbe besitzt eine Langzeitwirkung, die ein Mensch vielleicht erst ahnen und ernstnehmen kann, je älter er wird und je mehr er erfahren und beobachtet hat, je mehr er sich auch dazu bereitfinden kann, sicher erschienenen Trends, Linien, Perspektiven, Strategien etc. und eindeutig definierten Eingruppierungen rechts-links-alternativ-autonom-altlinks-neulinks- -postkonservativ-postalternativ etc. - immer wieder zu mißtrauen und neu mit dem Nachdenken zu beginnen, ohne aus dem Gedächtnis zu verlieren, was wiederholbar sein muß und was niemals wiederholt werden darf. Solange das Erbe dieser Kultur nicht wirklich angesehen, begriffen, angegriffen wird, kann dieser Mensch, dieser Kulturproduzent Mann und diese Kulturtransporteurin Frau überhaupt keine „umwälzenden“ Veränderungen der eigenen Gesellschaften und Personen, ihrer Ziele, Normen, Institutionen und sonstigen Projekte zustande bringen.
Zu wünschen wäre eigentlich eine Zeit des großen Silentiums, der Stopp aller hektischen Aktivismen und oberflächlichen Neuerungen, die Askese gegenüber jeder Art geistiger und materieller Ausbreitung zugunsten einer Reflexion, die sich nicht sofort an pragmatischen Umsetzungen bewähren müßte und die der allzuschnellen Eingemeindung in die wichtigtuerischen und betriebsamen Komitees der öffentlichen Meinungsbildung widersteht. Ich gebe zu, daß eine solche Bemerkung nicht als realpolitische Forderung gemeint sein kann und sinnlos erscheint für alle, die davon leben, täglich aktuellen Lese- und Redestoff verbreiten zu müssen; und daß sie sich zweitens an die Adresse der traditionellen Kulturträger, an die Adresse der Männer richtet. Denn das Silentium galt, jedenfalls im Sinne eines öffentlichen Silentiums, für Frauen im Prinzip so lange, wie diese Kultur existiert, verstärkt und explizit seit der bürgerlichen Aufklärung. Und ich brauche wohl nicht zu erwähnen, daß jeder Versuch, Frauen eine Stimme zu geben und ihre Präsenz durchzusetzen - wie es die taz, soweit ich weiß, praktiziert und wie es der jetzige Berliner Senat vorführen will -, nicht nur ein Lichtblick in der politischen und kulturellen Landschaft ist, sondern an manchen Tagen das ernüchterte Weltbild der exterritorialen Beobachterin im überraschend freundlichen Sinne irritiert.
Nur ist selbstverständlich mit Quantitäten, mit Quotierung allein das Problem nicht beantwortet. Und die vereinzelten Lichtblicke können nicht darüber hinwegtäuschen, daß - zum Beispiel in meiner Zunft - die Quotierungsdiskussion bis heute en symbolisches Ritual bleibt. Quotierung scheint vor allem da eine gewisse Aussicht auf Erfolg zu haben, wo es wirklich brennt und der Mann nur noch schwer den eigenen Karren aus dem Dreck kriegt. Und hier können auch Frauen sich nicht einfach in hemdsärmeliger Starteuphorie an die ihnen lange versagte Arbeit machen. Denn sie geraten alle in vorgeprägte Strukturen und in vollendete Tatsachen hinein, die nicht nur nicht von heute auf morgen, sondern zum Teil überhaupt nicht mehr aus der Welt zu schaffen sind. Die sogenannte Feminisierung der Bildung und Politik heißt zunächst mal nichts anderes, als daß sich jetzt auch Frauen an der Sisyphos-Arbeit beteiligen, die verheerenden und erschreckenden Hinterlassenschaften einer langen und kürzeren Vorgeschichte selbst mitanzufassen. Herausspringen und neu anfangen können wir nicht, denn jedes Terrain, in das zu springen wäre, ist belegt, verseucht, markiert, besprochen, mit Duftmarken und Reviergrenzen versehen, mit Vorentscheidungen zubetoniert. Die Produkte der Anmaßung, der Ignoranz und des Größenwahns lasten mit ihrem Schwergewicht und ihrer Giftwirkung überall und nicht zuletzt in den Köpfen derjenigen, die sie zu verantworten, wie derjenigen, die sie nicht direkt zu verantworten haben. Die sogenannte Verweiblichung der politischen Kultur, die die Hoffnung auf eine humanere Politik begründet, ist zunächst mal nichts anderes, als daß nun die ehemals Ausgeschlossenen und als inkompetent Definierten, die Frauen, bereit sind, sich an der unendlichen Arbeit der Ausbesserung, Dämpfung und Schadensbekämpfung zu beteiligen. Und das zu einem Zeitpunkt, wo die zerstörerische Wirkung gemachter Entscheidungen immer weniger zu verstecken ist. So viel Grund zur Dankbarkeit gegenüber den Männern, die gerade zu diesem Zeitpunkt die Mitarbeit der Frau dulden, begrüßen oder fördern, haben wir nun auch wieder nicht.
Und so stehen wir, Frauen wie Männer, erst am Anfang eines Prozesses, in dem es für alle um so unspektakuläre Dinge wie Nachdenken, Besinnen, Wissen geht. Es geht um eine radikale Konfrontation mit dem Erbe. Damit meine ich keine vergangenheitsfixierte Beschäftigung mit einem angestaubten Stoff, der die frischen und sauberen Triebe der Neugeborenen vorzeitig verkalken würde. Der Unwille, sich mit den Ungeheuerlichkeiten zu befassen, die diese Kultur sich legal und im zuverlässigen Rahmen ihrer Normen geleistet hat, beruht neben vielem anderen auch auf einer Unterschätzung der Wirkungsmacht, die das Erbe in den Psychen, Köpfen und Körpern auch derjenigen hinterläßt, die sich der Gnade der späten Geburt erfreuen, das heißt einer Geburt in eine Zeit ohne direkte Kriegsführung des eigenen Landes, ohne offene Kolonialisierung, ohne formalen Ausschluß der Frauen aus den Geschäften der Macht, in eine Zeit also, die auf den ersten Blick mehr damit beschäftigt zu sein scheint, alte Irrtümer auszubügeln als neue zu begehen. Aber die Vergangenheit vergeht nicht, sie lebt überall fort, materiell wie immateriell. Ohne Kennntnisse, ohne Erfahrung der offenen oder verborgenen Erblasten ist nicht zu verstehen, warum heute diese Männer und diese Frauen „normalerweise“ sind, wie sie sind.
Das Wort Vergangenheit ist für die meisten ein wenig attraktives Wort. Viel versöhnlicher und ermunternder ist die Konnotation des Wortes Zukunft. Es erscheint befreit und aufgehellt von den erdrückenden Fakten. Es klingt wie ein offenes Tor zu einem offenen Raum. Aber die Abtrennung der Zukunft von ihrer Vergangenheit kann immer nur eine schmalspurige Ausrichtung auf diese Zukunft erbringen. Sie schleppt die Bleigewichte vergangener Taten mit, ihre Niederschläge stecken in den Personen, den aktiv und den passiv Beteiligten. Die Arbeit am Bewußtsein, um die es geht, wird so von vornherein beschränkt und entleert, verführt in die gleichen Bahnen, in denen sie einer breiten Norm gemäß laufen soll. Dem nachhinkenden Bewußtsein ist durch Vorwärtsdrang nicht auf die Beine zu helfen.
Gemeint ist kein Historizismus, der vergangene Werke und Taten konserviert, die Tradition in Ehren halten will oder meint, auf Bausteinen der Geschichte aufbauen zu können. Gemeint sind nicht einfach Geschichtsfakten, erst recht nicht diejenigen, die in den Werken der Weltgeschichte archiviert sind. Gemeint ist auch nicht so etwas wie „Aufarbeitung“ der Vergangenheit. Diese ist nicht aufzuarbeiten wie ein ungeordneter Aktenberg. Es geht um etwas, das allerdings nicht so leicht und so schnell ein immer auf Konkretion bedachtes medienpolitisches Interesse trifft. Dabei sind die Fragen höchst konkret. Denn es geht hier um fast alle Probleme, an denen der gute Wille und der aufgebrachte Mut immer wieder scheitern. Jedes klein erscheinende Einzelproblem rückt so in sein historisches Licht. Und nur vor dem Hintergrund des Erbes ist ein fordernder und aggressiver und ein liebevoller und geduldiger Umgang mit den unwägbaren Folgen überhaupt denkbar.
So wird das Erbe der Frau in der patriarchalischen Kultur zum Alptraum, zum Behälter von Trauer und Scham wie zum Ansporn des Wissenwollens und der Ent-Solidarisierung. Das Erbe liegt in der Nötigung, entwürdigende Entwürfe über sich selbst anzueignen, weiterzugeben und zu überwachen; Teile des Erbes der Gewalt sorgsam zu transportieren; Verantwortlichkeiten einschließlich der eigenen zu verdecken und die Täter zu schonen; die eigenen Möglichkeiten auf dem Altar der Männeranbetung zu opfern; die eigenen Personen verarmen zu lassen und in gesollter Unwissenheit und Harmlosigkeit zu halten; in der Überbeschäftigung mit Privatem, in zerstörerischer Verletzbarkeit und Sympathiesucht, in immer wieder neuen Einschränkungen und Selbsteinschränkungen, die nicht zuletzt auch die eigene Psyche erfindet.
Solche Listen sind endlos. Und diejenigen des Mannes sind nicht minder endlos. Ich erspare sie mir hier, da sie vom Mann selbst erstellt werden müßten. Es gibt allerdings relativ wenig Grund zu der Annahme, daß der jetzt lebende Mann zum wirklichen Zweifel an seiner Welt und seiner Geschichte und zum Zweifel an der Rechtmäßigkeit seiner Ansprüche an die Welt gelangt. Die meisten Anzeichen seiner Selbsteinsicht bleiben kurzatmige opportunistische Gesten oder erschöpfen sich in vorübergehenden Anfällen des Selbstmitleids.
Ich glaube auch, daß die notwendige Anprangerung einzelner sexistischer und rassistischer Formulierungen nicht ausreichen kann, um deren historischen Kern und deren Exemplarität vorzuführen. Als Leserin und Beobachterin zumindest entsteht der Eindruck, daß die Haltung der Machtarroganz und des Definitions- und Herabsetzungsrechts weitestgehend ungebrochen ist und die Gegenattacken allenfalls die Haltung des Beleidigtseins oder der Häme hervorrufen. Das vollkommene Unverständnis gegenüber den historischen Hintergründen solcher Äußerungen scheint auf seiten der Attackierten und deren Verbündeten fortzubestehen. Zur Herrenkultur zu gehören und in ihr erbberechtigt zu sein ist offenbar weiterhin gleichbedeutend mit Ignoranz und Verdrängung, sofern es um die beschämenden Teile des Erbes geht. Sexistische und rassistische Formulierungen können einfach als partikulare Ausrutscher der Sprache, als unkluge Äußerungen auf dem öffentlichen Parkett, als Kavaliersdelikte bagatellisiert werden. Und so bleibt jedem Angegriffenen weiterhin der Mainstream offen, nämlich sich in Zukunft verbal etwas vorsichtiger zu bewegen, etwas weniger offensichtlich in sexistische, rassistische und anthropozentrische Fettnäpfchen zu treten, den lustvollen Prozeß vom Kopf oder Leib zum Papier etwas mehr zu kontrollieren und die eigene doch so sympathische Spontaneität ein wenig zu bremsen.
Die Empörung über die bloßen Phänomene der Unterdrückungsnorm jedenfalls gibt den angegriffenen modernen Männern weiterhin den Weg frei zu Rechtfertigungsmanövern, die von dem Vorwurf reichen, Frauen seien prüde oder Schwarze seien humorlos, bis hin zum Vorwurf, man werde daran gehindert, gesellschaftliche Tabus anzugreifen. Dieses Totschlagargument wurde schon lange zum Freibrief. Mit dem Banner des Tabubrechers kann der sich liberal und fortschrittlich wähnende Mann seine Demütigungs und Unterwerfungsgewohnheiten weiterhin ausleben und als Befreiungsschritte verkaufen. Der Mann, der von Frauen und anderen von ihm traditionell Unterdrückten in Schranken gewiesen wird, fühlt sich sogleich selber unterdrückt. Daß er sich „eingeschränkt“ fühlt im Vergleich zu seinen historischen Freiheiten, das ist verständlich und unvermeidbar. Hier kann ihm aber so gar nicht geholfen werden, zumal dann nicht, wenn er unentwegt Unterdrückung verwechselt mit der ihm abverlangten Berücksichtigung der Existenz und Würde derjenigen, die hier außer ihm selbst auch noch sind und denen gegenüber sein Recht des Zugriffs und Übergriffs erloschen ist.
Das politische Motiv zu einer mehr als bloß modischen Bewußtseinskosmetik kann nicht allein aus dem Unmut über die eigene Biographie, die eigenen Defizite, Verletzungen und unerfüllten Wünsche kommen beziehungsweise aus dem Unmut über den zunehmenden Verlust einer angestammten Bewegungsfreiheit, die seit mindestens 200 Jahren Praxis oder Ziel des aufgeklärten Mannes war, eine Bewegungsfreiheit zum unsäglichen Schaden derjenigen, die für nicht aufklärungsfähig und aufklärungswürdig oder nur im Sinne des Mannes aufklärbar gehalten wurden. Das politische Motiv zum Ausstieg aus diesen historischen Kontinuitäten kann nur aus einer Empörung über ein die eigenen Personen überschreitendes Unrecht am Menschen und aller mitlebenden Lebewesen kommen. Diese Formulierung ist mehr als ein moralisches Postulat, ebenso wie die Tat des Mannes an seinen Objekten mehr ist als ein historischer Lapsus. Es geht um die Umstrukturierung des Motivs der Veränderung und des Impulses der Empörung, um seine Ansiedlung im gesellschaftlichen und historischen Wissen statt nur in persönlich erfahrenen Mängeln.
Die Kritik am gegenwärtigen gesellschaftlichen Verhalten zielt auf ein historisches und kulturelles Bewußtsein, das weiß um die Schäden, die diese Kultur angerichtet hat: Schäden aus der Perspektive der Schädiger und Schäden aus der Perspektive der Geschädigten und allem, was dazwischen liegt. Anfangen können wir überhaupt nur im Wissen um die Qualität der Wirkungsgeschichte dieser Schäden, ihrer Fortsetzung in den jetzt lebenden Menschen. Dieses Wissen konfrontiert den weißen Mann mit anderem Stoff als die weiße Frau, und es verleitet die Geschlechter zu jeweils eigenartigen Formen der Erbverdrängung, Erbbeschönigung oder Erbkritik. Denn dem Mann wird weiterhin der Weg der Identifizierung, Fortsetzung und Kontinuitätssicherung angeboten. Und wenn er diesen verweigert, landet er entweder in der Berührungsscheu, oder aber er delegiert die Taten an „Primärschuldige“ und „Vernichtungstäter“ und exkulpiert den Normaltäter einschließlich seiner selbst. Die Frau dagegen trifft erstrangig auf ihre eigene Nicht-Existenz - auch in Form der Fortführung männlicher Interessen mit weiblichen Mitteln.
Das sage ich nicht mit dem Unterton der Beleidigten. Frauen sind in den Kreis der Erbberechtigten nicht aufgenommen, und das heißt auch, daß uns der anstrengende Versuch erspart bleibt, in den Stoffwechsel eines Organismus hineingeraten zu müssen, der die Potenz zum Richtungsweisenden verspricht, in einen Erbbesitz, der gleichzeitig immer auch Erbabhängigkeit bedeutet. Der Zwang zur Einreihung in ein Denken der unentwegten Fortsetzungen, des lückenlosen Aufgreifens, des Regelkonformismus, der Fragearmut, dieser Formen eines patriarchalen Konservatismus, weiterhin die gewaltsame Ausblendung von Teilen einer brutalen Modernisierungsgeschichte - dieser Zwang zur Verzerrung, diese vielen Totgeburten -, das alles müssen wir so nicht fortsetzen.
Feministischer Kulturkritik geht es um ein Wissen, das die Qualität des Erinnerns annimmt. Erinnern ist ein Vorgang, mit dem Vergangenes ins Innere zurückgeholt wird statt äußerlich und draußen zu bleiben, austauschbar und ablegbar. Wissen als Erinnerung bedeutet Berührung und Vergegenwärtigung: Gegenwärtigmachen. Sie macht die Gegenwart zum Ernstfall statt zum Probefall. Sie hat eine sinnliche, eine wachmachende Qualität. Denn Wissen als Erinnerung läßt die Rezeptoren nicht abstumpfen, die eine Person noch in Erregung versetzen können.
Feministische Kritik ist nicht ein Spezial- oder Lieblingsthema einzelner Separatistinnen, entspringt nicht einem schmalspurigen und egoverhafteten Ressentiment der Zukurzgekommenen. Vielmehr ist sie - und wird es nach meiner Auffassung immer stärker werden - eine umfassende Kulturkritik, die im Verhältnis dieser Kultur gegenüber Frauen, gegenüber anderen Rassen und Völkern und gegenüber der Natur die gleiche ideologische Wurzel sieht: Das christlich-abendländische und das aufklärerische Vergewaltigungsgebot des „Macht-euch-die-Erde-untertan“, das in der neueren und jüngsten Geschichte immer perfekter befolgt wird. Alle, die an der politischen und kulturellen Entwicklung der kommenden zehn Jahre direkt oder indirekt beteiligt sind, werden sich daran messen müssen, wie sie sich zu dieser patriarchalischen Aufforderung verhalten.
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