: „Guten Tag, Arbeiterklasse“
■ Zur Zeit erlebt die Türkei die wichtigste soziale Bewegung seit ihrer Gründung / Halbierung der Kaufkraft
I N T E R V I E W
Dr.Dogu Perincek ist Chefredakteur des in Istanbul erscheinenden Nachrichtenmagazins '2000 E DOGRU‘ (dem Jahr 2000 entgegen) und ehemaliger Vorsitzender der seit dem Putsch 1980 aufgelösten Arbeiter- und Bauernpartei (TIKP). Zur Zeit ist gegen ihn ein Prozeß anhängig, weil die Zeitschrift Manuskripte Atatürks nachgedruckt hatte, in denen dieser zur Kurdenfrage Stellung nahm.
taz: Was ist der Grund dafür, daß plötzlich, acht Jahre nach dem Putsch und der damit verbundenen Verbote von Streiks und oppositionellen Gewerkschaften, landesweite Arbeitsniederlegungen stattfinden?
Perincek: Für mich kommen diese Streiks keineswegs überraschend. Wir haben bereits im letzten Herbst prognostiziert: in der Türkei kommt eine neue Arbeiterbewegung. Jetzt ist es soweit. Nach acht Jahren Diktatur und anschließender Demokratie nach den Spielregeln der Militärs haben die Leute jetzt Bilanz gezogen. Die reale Kaufkraft der Bevölkerung ist in diesen acht Jahren halbiert worden, und es gibt bei Özals Politik keinerlei Anzeichen, daß sich an dieser Richtung etwas ändern könnte. Der Durchschnittslohn liegt bei umgerechnet 130 Mark - davon kann man nicht leben.
Trotzdem überrascht doch das Ausmaß des Ausstandes und die effiziente Organisation. Die offizielle Gewerkschaft Türk-Is stellt sich ja gegen die Streiks.
Die Türk-Is ist von unten überrollt worden. Angefangen mit den Streiks in den Istanbuler Werften haben sich die Belegschaften selbst organisiert und Streikkomitees gebildet, die sich jetzt auch überregional zusammenschließen wollen.
Gorzs‘ These vom Abschied vom Proletariat wird in der Türkei praktisch widerlegt. Es gibt eine breite Allianz vom betenden bis zum linken Arbeiter - ich bin überzeugt, wir erleben in der Türkei zur Zeit die wichtigsten Ereignisse seit Gründung der Republik.
Mit welchen Ergebnissen der Streiks rechnen Sie denn?
Es geht jetzt um Özals Kopf. Die Leute fordern seinen Rücktritt und er wird sich nicht mehr lange halten können. Özal taktiert nur noch herum, es wird bereits über vorgezogene Neuwahlen geredet. Das eigentliche Problem aber ist, daß alle im Parlament vertretenen Parteien, einschließlich der Sozialdemokraten, keine Antwort auf die Probleme der Türkei haben. In den nächsten Jahren wird sich zeigen, ob die Bewegung von unten die Kraft zu radikalen demokratischen Lösungen hat oder erneut das Militär eingreift. Eins aber haben die Leute begriffen: Politische Freiheit und ein halbwegs erträglicher Lebensstandard sind zwei Seiten derselben Medaille.
Halten Sie denn einen erneuten Putsch für wahrscheinlich?
Zur Zeit überhaupt nicht. Die Situation ist mit 1980 nicht zu vergleichen. Die Bewegung ist äußerst diszipliniert, es gibt keinen Terror auf den Straßen, für eine Militärintervention gäbe es überhaupt keine Legitimation. Das Land wäre auch durch die Militärs nicht zu stabilisieren. Wir brauchen jetzt Veränderungen, um dann unter anderen Bedingungen eine stabile Demokratie aufbauen zu können.
Interview: Jürgen Gottschlich
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