: Vorhang zu
■ Die Ruhrfestspiele Recklinghausen, der DGB, das Theatersterben: ein Trauerspiel
Theater vor und hinter dem eisernen Vorhang. Es sollte ein Kunstgriff sein, um die Eigeninszenierung der Ruhrfestspiele Große Freiheit 89 - Stücke über ein Stück Revolution zeitgleich an drei verschiedenen Schauplätzen im Festspielhaus stattfinden zu lassen. Vor dem eisernen Vorhang sitzen die Zuschauer und warten vergeblich, daß er sich hebt. Eine Plattform ist an der Seite des Parketts über die Stuhlreihen gelegt, darauf eine weiße Badewanne. Das Sterbebad Jean Paul Marats. Und Charlotte Corday, die Mörderin des Revolutionshelden sitzt irgendwo im Raum; erst wenn sie aufsteht und zu sprechen beginnt, ist es gewiß, daß sich der Brandschutz-Vorhang an diesem Abend keinen Millimeter bewegen wird und nur die Bühne jenseits verdeckt, auf der ebenfalls gespielt wird - allen Blicken diesseits entzogen. Ein anderes Stück, von dem nur ab und zu ein paar Silben durch die Mauer des Schweigens zu den Zuschauern dringen, die ihren Augen nicht trauen und immer noch darauf harren, daß die Schauspieler dorthin gehen, wo sie hingehören. Auf die Bühne.
Der mächtige grau-grüne Stahl, heruntergelassen wirkt er so unendlich trennend und kalt; unfreiwillig ist das Spiel mit dem Vorhang zum Sinnbild für die Situation der Ruhrfestspiele geworden. Die Bühne bleibt zu, weil es billiger ist, direkt im Publikum zu spielen. So könnte es aussehen, wenn der Sparkurs der Gesellschafter - der Deutsche Gewerkschaftsbund ist zu zwei Dritteln und die Stadt Recklinghausen mit einem Drittel beteiligt - noch stärker wird.
Das Theater und der Tod. In Recklinghausen ziehen sich diese beiden Worte von Saison zu Saison mehr und mehr an. Im Herbst vergangenen Jahres sah sich der DGB als Träger dazu veranlaßt, ein drohendes Aus für die Ruhrfestspiele zu dementieren. Schon damals ließ Lothar Zimmermann, Mitglied im geschäftsführenden Bundesvorstand und verantwortlich für die Kulturarbeit des DGB, durchblicken, daß auch die Ruhrfestspiele nach dem Neue-Heimat-Skandal zum Ausgleich des Finanzdebakels Federn lassen müßten. Man wolle aber zunächst das Gutachten des Berliner Professors Dieter Sauberzweig abwarten. Nun liegt das 200-seitige Papier des Instituts für Urbanistik vor.
„Das Ensemble der Ruhrfestspiele konnte den ihm ursprünglich zugedachten Auftrag und die damit verbundenen künstlerischen Möglichkeiten nicht erfüllen“, heißt es in dem Gutachten, „alle Überlegungen für die Zukunft der Ruhrfestspiele können daher die Frage nach dem Bestand des Ensembles nicht ausklammern.“ Der DGB hat den Wink gegen die Schauspieler verstanden, die harsche Kritik aber, die der Gutachter auch am Wasserkopf der Verwaltung übt, einfach überlesen. Schon jetzt ist die Richtung angegeben, in der marschiert wird, auch wenn eine Kommission noch alles sorgfältig prüfen müsse. „Wenn wir jetzt das Ensemble wegnehmen“, sagt Lothar Zimmermann und vergißt den einschränkenden Konjunktiv, der ja angebracht wäre, „dann heißt es automatisch, wir machen Theatertod. Aber es war nie in der Planung, ein Stadttheater in Recklinghausen zu haben.
Erst seit knapp sieben Jahren gibt es das Ensemble. Von der Vorbereitung eigener Festspielinszenierung hat es sich weiterentwickelt zu einem Theater, das auch außerhalb der sechswöchigen Festspielzeit im - eigens dafür hergerichteten - „Theater im Depot“ Produktionen realisiert. Diese Ausweitung der Arbeit nun als heimliches Stadttheater zu disqualifizieren, das sich die Stadt Recklinghausen auf Kosten des DGB leiste, ist ebenso verlogen wie leicht zu durchschauen. Der DGB sucht Argumente für das Ende.
Der Vorhang bleibt geschlossen. Im Zuschauerraum des Festspielhauses probt Regisseur Hermann Kleinselbeck eine weitere Passage aus der szenischen Collage Paris Tahiti. Drei Schauspieler schleichen im Zeitlupentempo über die Sitze. Einen Fuß auf das Holz der Armlehnen, einen vorsichtig auf der Kante des Polsters schweben sie von Reihe zu Reihe als wollten sie sich schon jetzt freiwillig in Luft auflösen. Später in der Kantine, einer tristen Einrichtung aus den späten Sechzigern, mit Resopal-Tischplatten, auf denen bläßliche Bockwürste neben Kartoffelsalat dampfen, schimpft alles über den „Sauberzweig“. In ihrem Eifer über die kleinen Mängel der Studie vergessen die Schauspieler ganz, daß der Feind nicht in Berlin sitzt, sondern in Düsseldorf im Bundesvorstand des DGB.
Das Institut für Urbanistik hat eher eine nüchterne Analyse einer verfehlten gewerkschaftlichen Kulturarbeit vorgelegt als die Beschwörung eines Theatersterbens an der Ruhr. Daß dabei das Ensemble in die Schußlinie geraten ist, liegt mehr an der Vernebelungstaktik des DGB, der die scharfen Töne über seine gescheiterte kulturpolitische Verpflichtung gar nicht hören mag.
Gut ist der Arbeiter, wer böse ist, das bestimmen die Gewerkschaften, deren Weltbild nach wie vor starr in zwei Hälften geteilt ist. Lohnarbeit und Kapital. Niemand darf diesen Grundwiderspruch antasten, auch wenn im eigenen Hause vor lauter Skandalen die Faust nur noch heimlich in der Tasche geballt wird. Sinnvolles muß da einfach überlesen werden. „Angesichts der unbestreitbaren Auflösungstendenzen, der seit einigen Jahren die traditionellen Arbeitermilieus auch im Ruhrgebiet unterliegen, erscheint es jedoch kaum sinnvoll, das Konzept einer Integration der Festspiele in die lokale Arbeiterkultur als ausschließliches und bestimmendes Ziel weiterzuverfolgen“, hat Professor Sauberzweig geschrieben und gefordert, auf eine viel differenziertere Arbeiterschaft zu reagieren. Vergebens.
Vehement wehrt sich auch das Ensemble gegen eine Aufweichung des parteilichen Theaters. Man wolle „unabhängig von postmodernem Zeitgeist“ arbeiten: „Schon gar nicht kann ein sozialintegrativer Kulturbegriff für die Ruhrfestspiele der neunziger Jahre leitend sein, der die Ausgrenzung eines Drittels der Bevölkerung aus der sogenannten Kulturgesellschaft in Kauf nimmt“, heißt es in der Reaktion des Festspiel-Ensembles auf das Gutachten. ein Aufheulen, als müsse sich das brave, aufrechte Agitprop-Theater schon am Rande eines Wandels zur Yuppie-Bühne wähnen. Die Ruhrfestspiele als Verwalter gewerkschaftlicher Kampagnen -Kultur: so wollten sich die Künstler nie verstanden wissen. Indem sie sich nun aber den Anwalt auf der falschen Seite suchen und dem DGB Schützenhilfe leisten, anstatt den Vorschlag aufzugreifen, „das Feld 'Arbeit und Kultur‘ unter den veränderten Bedingungen neu zu besetzen“, scheint es nicht mehr weit zu sein, bis alle auf der Bühne stehen und Sprüche zur Tarifpolitik skandieren.
Trübe Aussichten vor dem eisernen Vorhang. Beides kann geschehen. Vier Schauspieler, die allein im Parkett herumklettern, weil das „Arbeiter-Publikum“ ganz plötzlich abhanden gekommen ist. Oder ein voller Saal mit einer Busladung Gewerkschaftsmitglieder und vier verschüchterten Verwaltungsangestellten vorn auf der Rampe, die erklären, warum dem DGB das Haus der Ruhrfestspiele - im Volksmund wegen seiner penetranten Klobigkeit nur „Bunker“ gehänselt mit dem aufgeblähten Apparat wichtiger ist als ein festes Ensemble.
Wahrscheinlich aber kommt alles wieder so, wie es immer schon war. Der DGB hält sich die Ruhrfestspiele weiterhin als Alibi für seine Kulturarbeit. Das Ensemble bleibt bestehen, weil die Gewerkschaft sich nicht noch einmal das Attribut Arbeitsplatzkiller leisten kann. Mit einem Etat, der gerade ausreicht, um Theater zu machen. Dafür wird es wieder schlechte Kritiken geben. Die treffen aber nicht den DGB - nur die Schauspieler.
Christof Boy
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