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Rollende Zuflucht auf DDR-Gebiet

■ Obdachlose besetzten Gelände vor der Mauer in Kreuzberg / Sie verlangen Wohnraum

Eine Vorliebe für rollende Schlafstätten scheinen die Kreuzberger Obdachlosen des Kiezdach-Vereins zu hegen: Besetzten sie noch vor zehn Tagen einen ausgedienten U -Bahnwaggon auf dem KiTa-Gelände der Ölberggemeinde am Paul -Linke-Ufer (die taz berichtete), so ist es jetzt ein Bauwagen, den vier Wohnungslose am Sonntagabend zu ihrer neuen Behausung erklärten. Der Clou dabei: Das altertümliche Wohnmobil steht auf einem kleinen Stück DDR-Gebiet am Ende der Mariannenstraße.

Eingeklemmt zwischen asbestverseuchter Thomaskirche und Mauergrau, haben die Freiluftschläfer nicht ohne Grund auf dem vogelfreien Plätzchen Stellung bezogen: „Wir haben das DDR-Stück per Bauwagen besetzt, weil uns hier keiner so schnell vertreiben kann“, erklärt Rainer, der auch schon bei der Wohnaktion „U-Bahnwaggon“ dabei war. Als Mitglied des Kiezdach-Vereins, der sich um die Beschaffung von Wohnraum für Obdachlose kümmert, ist ihm auch bei der Bauwagenschlafstatt der Symbolcharakter am wichtigsten. „Wir besetzen so lange, bis wir endlich vernünftige Wohnungen und Mietverträge bekommen.“ Lösung auf Dauer sei das Wohnen im Bauwagen natürlich nicht, bemerkt Horst, der soeben aus dem Knast entlassen wurde und froh ist, wenigstens vorübergehend eine Bleibe gefunden zu haben.

Wie ihrer Wohnungsnot ein Ende bereitet werden könnte, wissen die Obdachlosen, die Wert darauf legen, nicht als Berber oder Penner bezeichnet zu werden, schon längst. Die Forsterstraße 20 in Kreuzberg könnten sie sich als Alternative zur Campingatmosphäre im Bauwagen durchaus vorstellen. „Da stehen schon seit langem Wohnungen leer“, erklärt Kiezdach-Rainer, der selber auch keine feste Bleibe hat. Und damit ihre Forderung nach genannten Wohnungen nicht ohne Folgen bleibt, haben Rainer und seine Kumpel auch schon vorgesorgt: „Nach jeder Woche, die vergeht, ohne daß wir Mietverträge sehen, stellen wir hier einen weiteren Bauwagen hin. Das wird dann so eine Art Obdachlosensiedlung“, erklärt der Mitarbeiter des Kiezdach-Vereins. Zehn Bauwagen, so Rainer, würden durchaus auf das DDR-Gelände, zu dem auch ein Parkplatz gehört, passen.

Ein Büro für den Kiezdach-Verein wollen die Obdachlosen in ihrem angemieteten Vehikel so schnell wie möglich einrichten. Bislang nur über das Büro des Mietervereins SO 36 zu erreichen, soll, wenn es nach den Bauwagen -BewohnerInnen geht, schon bald das Telefon in ihrem Wohnmobil klingeln. „Wir haben bei der Post schon einen Antrag eingereicht“, so Rainer. Der werde aber garantiert abgelehnt, weil sie sich auf DDR-Gebiet befänden. „Danach schreiben wir dann an Honecker, daß er uns mal 'ne Strippe über die Mauer schmeißen soll“, witzelt der Wohnungslose mit ernster Miene. Auch eine Küche soll in dem rund 40 Quadratmeter großen Bauwagen noch Platz finden. „Toiletten und Duschen dürfen wir bei der Thomas-Gemeinde benutzen“, erklärt Rainer. Und auch so manche Kanne Kaffee sei schon des öfteren aus der dortigen Küche zu ihnen hinübergewandert.

„Nach 200 Jahren: Freiheit, Gleichheit, Wohnlichkeit!“, so ist auf einem Mammuttransparent zu lesen, das den halben Bauwagen verhüllt. Für die Obdachlosen in ihrem rollenden Gefährt ist das aber längst nicht alles. „Solange wir hier wohnen, wollen wir auch Straßentheater organisieren“, erklärt Rainer vom Kiezdach-Verein. Mit buntem Programm solle der Bauwagen bei schönem Wetter eine kulturelle Kiezattraktion werden. Auch der malenden Künstlergemeinde werde Tribut gezollt: „Wir haben einen Maler gefunden, der ab morgen den Bauwagen bearbeitet“, so Rainer. Thema der kostenlosen Schönheitskur? Obdachlosigkeit natürlich!

cb

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