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„Eine Schande für die Linken“

■ Am Tag nach den Krawallen wurde auf Kreuzbergs Straßen kontrovers diskutiert / Touristen ließen sich vor den Trümmerhaufen fürs Fotoalbum ablichten / Menschenansammlungen vor der ausgebrannten Texaco-Tankstelle

Lausitzerplatz, am Tag danach: An den ausgebrannten Autowracks, die die Seitenstreifen von Skalitzer- und Görlitzer Straße säumen, ziehen zahllose Menschen vorbei. Manch einer hat sich mit Kamera oder Fotoapparat bewaffnet, um sich, wie die beiden Touristen aus Aschaffenburg, an dem verkohlten Renauld in Feldherrenpose fürs Familienalbum zu verewigen. Ein älterer Herr, in alternativen Out-fit, possiert vor einem auf dem Rücken liegenden Wrack undefinierbare Marke für die Kamera. Auf dem Schildchen, daß er sich vor die Brust hält, ist in krackeligen Druckbuchstaben geschrieben: „Liebe Mutti, ich war dabei“. Auf Nachfrage erklärt er, das Foto sei für eine psychoanalytische Studie über Krawalle bestimmt. Das bisherige Ergebnis: 70 Prozent der Leute, die an Krawallen teilnähmen, hätten die anale Phase nicht überwunden.

Wenige Schritte weiter, auf dem Vorplatz der Texaco -Tankstelle, bietet sich ein ganz anderes Bild. Menschen stehen in dichten Trauben beisammen und diskutieren. An dem Ort, an dem sich wenige Stunden zuvor brandschatzende Horden unter den Augen zahlloser Schaulustiger ausgetobt hatten, ist Nachdenklichkeit eingekehrt. Unter den Hammerschlägen der Arbeiter, die die völlig zertrümmerte Fensterfront des Tankstellenhäuschen erneuern, werden Einschätzungen und Ansichten über das Geschehen mal lauter mal leiser ausgetauscht. Vornehmlich sind es Männer, die in den Zentren der Menschenansammlung engagierte Positionen vertreten, während die Umstehenden interessiert zuhören oder dazwischen rufen.

Befürwortet oder verteidigt werden die nächtlichen Ausschreitungen in den Diskussionszirkeln nur von einer Minderheit. Altbekannte Argumente müssen herhalten, die auch sehr schnell ausgehen: Der Haß auf das System und jetzt insbesondere auch auf „die typische Beschwichtigungspoitik der AL“, der jahrelang aufgestaute Frust über die Sozialen Mißstände der auch von rot-grün nicht behoben werden wird, der Hungerstreik. Auch von einer „Provokation der Bullen“ ist die Rede, weil sie bei der Demo „Spalier liefen“ und „statt zu es verhindern zugeguckt haben“, wie der Hoffmanns Getränkeladen geräumt wurde. Ein mittelalterlicher Mann mit Hund schwingt sich zu der Behautung auf, daß es keine Randale gegeben hätte, wenn die „Bullen den Mut gehabt hätten, ganz aus Kreuzberg draußen zu bleiben“.

Doch nicht nur der Ex-Baustadtrat Werner Orlowsky läßt diesmal nicht gelten, daß es der Krawall mit der Entladung der frustrierten Massen einfach und billig entschuldigt wird. „Ich behaupte, das war keine spontane Aktion, sondern war bewußt organsiert“, sagt Orlowsky. Das die Intiatoren nur ein Quentchen politisch gedacht haben, wird von ihm nicht nur entschieden bezweifelt, sondern er hat auch einen treffenden Beweis parat: Das Tabakgeschäft zweier Brüder, daß in der Oranienstraße 10 bis 11 ausgepündert wurde. Ausgerechnet ein Laden, der 19 Jahre im Kiez ausgehalten habe, und der Sanierungsniederwalze widerstanden habe, so Orlowsky, mußte herhalten.

Dreimal habe er mit Bekannten in der Nacht die Plünderung verhindern können. Bei vierten Mal nicht mehr. Ein Hüne habe das Gitter mit der Begründung hochgehoben: „Der ist doch versichert.“

An die Entladung der Massen aus sozialem Frust glaubt auch ein Mann in rotem Anorak nicht mehr. Er habe die Gesichter gesehen: „Das waren keine wütenden Gesichter, sondern lustige, in denen sich die Freude über das Spektakel und das sich Austoben widerspiegelte. Die Nacht war eine Schande für die Linken.“

Schließlich hätten in Kreuzberg teilweise 40 Prozent und mehr SPD und AL gewählt, weil sie von einem Leben in multikultureller Vielfalt träumten. Und trotzdem ließen sie sich von einer Gruppe ihr Fest kaputtmachen, und einen Park, in den viele Leute viel Arbeit gesteckt hätten. Er verwies auf die „unheimliche Rolle“ der Gaffer, die vor den Kneipen standen und literweise Bier tranken, und zusahen, wie die Autos in Brand gesetzt und Barrikaden auf die Straßen geräumt wurden. „Das war wie im Kino“. Er selbst habe zu seiner Schande entdeckt, daß er darauf gewartet habe, daß die Polizei eingreift. „Die Gaffer haben nicht kapiert, daß die Polizei die Arbeit übernahm, die man eigentlich selbst hätte übernehmen müssen.

plu

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