: „Unsere Gesellschaft braucht mündige Bürger“
■ Das umstrittene Papier „Mehr Gerechtigkeit in der DDR“ wurde auf der Ökumenischen Versammlung in Dresden verabschiedet
IM
Für eine Umgestaltung des Sozialismus in der DDR haben sich am Wochenende die Vertreter von 19 kirchlichen und religiösen Gemeinschaften in der DDR ausgesprochen. Die Ökumenische Versammlung in Dresden, an der Protestanten und Katholiken gleichermaßen teilnahmen, war die letzte von mehreren Vorbereitungstreffen für das 1990 in Seoul geplante weltweite Treffen der Religionen. Zu den Themen Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung wurden insgesamt zwölf Grundsatzpapiere verabschiedet. Das im folgenden dokumentierte Papier „Mehr Gerechtigkeit in der DDR“ sorgte bereits im Vorfeld der Dresdener Versammlung für Wirbel, nicht zuletzt deshalb, weil kein brisantes Thema ausgespart wurde. Fehlende Rechtssicherheit und Reisemöglichkeiten werden genauso beklagt wie das reformbedürftige Wahlsystem und die Unmündigkeit der BürgerInnen. Kurz vor der Tagung hatte der für Kirchenfragen zuständige Staatssekretär Löffler noch vergeblich versucht zu intervenieren und auf den Text Einfluß zu nehmen. Wenn der Entwurf der Arbeitsgruppe 3 zum Thema Gerechtigkeit nicht geändert werde, sei der 1978 vereinbarte Dialog zwischen Staat und Kirche in Frage gestellt. Das Papier, so Löffler, sei als Grundlage einer oppositionellen Vereinigung bezeichnet worden und enthalte „staatsfeindliche Äußerungen“. Abschreckende Wirkung wurde mit der Drohung allerdings nicht erreicht. Mit Zweidrittelmehrheit verabschiedeten die 140 kirchlichen Vertreter den umstrittenen Textentwurf. Die Kirchen der DDR nahmen den Protest gelassen auf. Schließlich habe sich in der Vergangenheit gezeigt, daß der Dialog so schnell nicht abgebrochen wurde und daß Staat und Kirche, wenn nötig, doch miteinander sprachen. Davon gehe man auch in Zukunft aus.
(...) Die DDR ist eines der Länder, in denen die Befriedigung materieller Grundbedürfnisse für alle gewährleistet ist. Andererseits leben in unserem Land viele Menschen mit enttäuschten Erwartungen. Nicht alle Gründe für solche Enttäuschungen sind DDR-spezifisch. Der rapide ökonomische und soziale Wandel, den die wissenschaftlich -technische Revolution verursacht, überfordert das Orientierungsvermögen vieler. Die gesellschaftliche Wirklichkeit wird oft als undurchschaubar erlebt. Das fördert Nischenexistenz und Aussteigermentalität. Diese Gegebenheiten teilt die DDR mit vielen anderen Ländern.
Es gibt aber Probleme, die das gesellschaftliche Zusammenleben zusätzlich belasten. In Ausbildung und Beruf wird großer Wert auf sogenannte „gesellschaftliche Arbeit“ gelegt. Viele fühlen sich dadurch bedrängt. Aus unterschiedlichen Gründen gehen sie darauf ein, weil sie meinen, ihre „Staatstreue“ durch Funktionen und Mitgliedschaften in Organisationen beweisen zu müssen, da davon Fortkommen, Anerkennung und Privilegien in höherem Maß abhängen als von beruflicher Leistung. Schon in der Schule wirken Zwänge zur Mitgliedschaft in der Pionierorganisation und in der FDJ sowie zur Teilnahme an Jugendweihe und Wehrunterricht. Sie sind Teil einer umfassenden ideologischen Erziehung. Konformismus und Opportunismus sind oft ihre Folgen.
Der grundsätzliche Anspruch der Staats- und Parteiführung, in Politik und Wirtschaft zu wissen, was für den einzelnen und die Gesellschaft als Ganzes notwendig und gut ist, führt dazu, daß der Bürger sich als Objekt von Maßnahmen, als „umsorgt“ erfährt, aber viel zu wenig eigenständige, kritische und schöpferische Mitarbeit entfalten kann. Dadurch wird die Lösung anstehender sozialer, ökologischer und ökonomischer Probleme verstellt, in der auch wir unauflösbar verflochten sind. Die dadurch gegebene Spannung zwischen Regierenden und Regierten verhindert den inneren Frieden, beeinträchtigt aber auch den Hausfrieden im gemeinsamen europäischen Haus.
Warum sind so wenige bereit, Verantwortung für das Gemeinwohl zu übernehmen? Viele engagieren sich nicht - aus Bequemlichkeit oder aus Berührungsängsten. Andere meinen: es lohnt sich nicht; es bringt nur Nachteile. Diese Haltung beruht auf alltäglichen Erfahrungen:
-Wenn sich Bürger aufgrund gemeinsamer Interessen außerhalb gesellschaftlicher Organisationen zusammenfinden, geraten sie schnell in den Verdacht staatsfeindlicher Aktivitäten.
-Wer unbequeme Vorschläge unterbreitet, begegnet oft einem Bürokraten, der vor allem Richtlinien durchsetzen muß und selten einem, der bereit und in der Lage ist, sachgerechte Entscheidungen für seinen Verantwortungsbereich zu treffen.
-Wer irgendwie auffällt und sich nicht wie erwartet verhält, muß mit Rückwirkungen in ganz anderen Lebensbereichen rechnen. Durch solche Ohnmachtserfahrungen werden Menschen entmutigt oder verbittert.
Es fehlt in der DDR weiterhin an Ehrlichkeit und Wahrhaftigkeit. Weil vom Bürger erwartet wird, daß er sagt, was man hören will, hat er sich daran gewöhnt, etwas anderes zu sagen, als er denkt, und anders zu handeln, als es seinen Überzeugungen entspricht.
Es fehlt in der DDR die volle Rechtssicherheit. Das Eingabewesen macht den Bürger zum Bittsteller, ohne die wichtige Einsicht zu vermitteln, daß seine Interessen durchaus im Widerspruch zu anderen berechtigten Interessen stehen können.
Viele in unserem Land sehen ihre Besonderheiten oder ihre besonderen Probleme nicht hinreichend berücksichtigt wie z.B. Alkoholiker, Behinderte, Homosexuelle, Strafentlassene. Sie fühlen sich deshalb an den Rand gedrängt und ungerecht behandelt. Ihre Möglichkeiten, sich zu artikulieren und gegebenenfalls in Selbsthilfegruppen zu organisieren, sind eingeschränkt. (...)
Frauen in der DDR sind gesetzlich gleichberechtigt. Aber in von Männern geprägten Strukturen können sie sich nicht genügend entfalten und ihren Einfluß zu wenig geltend machen. Belastungen durch Beruf und Familie und die Abhängigkeit von Traditionen erschweren es ihnen, ihre eigenen Werte zu erkennen und sie zu verwirklichen. (...)
(...) Wir brauchen eine Atmosphäre, die den Mut zur Teilnahme an den öffentlichen Angelegenheiten fördert. Diese wird beeinträchtigt durch geheime Überwachung und noch immer ungenügenden Datenschutz. Sie würde aber gefördert durch mehr Rechtssicherheit. Das Strafrecht und angrenzende Rechtsvorschriften sollten so gestaltet werden, daß die Auslegungsspielräume klar und möglichst eng sind. (...)
Damit Verantwortung in unserer Gesellschaft sachgerecht wahrgenommen werden kann, brauchen wir klar abgegrenzte Zuständigkeiten auf verschiedenen Ebenen des Staates sowie eine klare Trennung der Kompetenzen von Staats- und Parteifunktionen. So kann vermieden werden, daß der Staat pauschal für alle Schwierigkeiten verantwortlich gemacht wird. So kann konkrete Rechenschaft erbeten und gegeben werden. Ein Anfang ist die Pflicht der Behörden, ihre Entscheidungen den betroffenen Bürgern zu begründen und auf Wunsch schriftlich zu geben. Geheimhaltung sollte auf das Unumgängliche beschränkt werden.
Wahlen, in denen die Urteilsfähigkeit der Bürger wirklich gefordert wird, geben den Gewählten ein tragfähiges Mandat. Das Wahlrecht sollte so reformiert werden, daß die Wähler auf die Aufstellung der Kandidaten wirksamen Einfluß nehmen und geheim unter mehreren auswählen können.
(...) Unsere Gesellschaft braucht mündige Bürger, die ihre Rechte und Pflichten, ihre Aufgaben und Möglichkeiten selbstverantwortlich wahrnehmen, die mitdenken und sagen, was sie denken, ohne zu nörgeln, und die nicht warten, bis ihnen alle Schwierigkeiten aus dem Weg geräumt sind. Dazu brauchen auch sie die ungehinderte Möglichkeit, sich zu versammeln und in selbständigen Vereinigungen zusammenzutun, um gemeinsam nachzudenken und zu handeln.
Unsere Gesellschaft braucht mündige Bürger, die im Bereich der DDR auch ihre Heimat sehen können. Die beschriebenen Erwartungen haben auch dieses Ziel. Die neuen Reiseregelungen haben die Situation noch nicht entkrampft, die es vielen Bürgern erschwert, hier ihre Heimat zu finden. In den Bemühungen um weitere Schritte zur Verwirklichung der KSZE-Beschlüsse darf nicht nachgelassen werden. (...) (von der Redaktion gekürzt)
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen