: „Kontraproduktiv für fortschrittliche Anliegen“
Harald Wolf, Mitglied des Geschäftsführenden Ausschusses der AL, über Regierungsverantwortung und Polizeieinsätze ■ I N T E R V I E W
taz: „Ohne Bullen kein Krawall“, hieß bis jetzt auch das Motto der AL. Jetzt hat Kreuzberg trotz deutlicher Zurückhaltung der Polizei die schwersten Straßenschlachten seit Jahren erlebt. Da stimmt doch etwas nicht, oder?
Harald Wolf: Ja, gestern hat ganz offensichtlich dieser Spruch nicht zugetroffen, weil es gar keine Polizei in der Nähe gab, als die Sache losging. Insofern kann man das unserer Ansicht nach auch nur als gezielte politische Provokation von einem kleinen Teil der TeilnehmerInnen der „revolutionären 1.-Mai-Demonstration“ betrachten. Das kann aber nicht heißen, daß eine deeskalierende Polizeistrategie damit beendet ist, denn - das hat ja auch die Vergangenheit gezeigt - derartigen Ausschreitungen ist mit keiner Art von Polizeistrategie beizukommen.
Aber wie soll denn in Zukunft - man muß ja nicht auf den 1. Mai 1990 warten - mit solcher Randale umgegangen werden?
Ich denke, in den nächsten Tagen und Wochen muß nicht nur die AL, sondern müssen auch gerade die Teile der Linken, die dem rot-grünen Senat und der AL kritisch gegenüberstehen, klar Position beziehen, wie sie sich bei derartigen Aktionen verhalten. Meiner Ansicht nach muß es gegenüber Aktionen wie gestern, die letztlich ohne politische Zielsetzung waren und wo Militanz zum reinen Selbstzweck geworden ist, klare Distanzierungen geben. Solche Aktionen sind kontraproduktiv für jedes fortschrittliche Anliegen, für jedes einigermaßen geregelte Zusammenleben im Kiez. Da muß auch die Diskussion innerhalb der autonomen Szene geführt werden.
Was bedeutet das für eine zukünftige Zusammenarbeit der AL mit der autonomen Szene?
Das gleiche wie immer. Wir haben ja in bestimmten Aktionen und Bündnissen immer darauf geachtet, daß Aktionen möglichst gewaltfrei durchgeführt werden, und haben versucht, entsprechende Absprachen durchzusetzen.
Nun wißt Ihr aber nicht vorher, was passiert, und hinterher steht Ihr da wie jetzt. Was dann?
Am 1. Mai gab es ja keine Bündnisse. In der Regel lassen sich Demonstrationen, wenn sie gut vorbereitet sind, in ihrem Verlauf schon einschätzen. Daß es immer wieder unkalkulierbare Aktionen gibt, kann man nie ausschließen.
Aber die AL ist jetzt Regierungspartei. Sie muß der Kreuzberger Bevölkerung sagen können, wie man solche nächtliche Randale verhindern will.
Das ist richtig. Ich denke, daß das auf zwei Ebenen laufen muß. Auf der Ebene der Stadtteilstrukturen, der verschiedenen Initiativen und der AL-Kreuzberg muß man eine breite Diskussion führen und ein politisches Klima schaffen, das so etwas wie letzte Nacht nicht toleriert.
Aber diese Diskussion hat es doch auch nach dem 1. Mai 87 schon gegeben.
Richtig. Nur war die Situation am 1. Mai 87 eine andere. Der 1. Mai 87 hatte sehr viele Aspekte von sozialer Explosion. Dieses Mal war es eine politische Provokation, für die es keinerlei Anlaß gegeben hat, und das ist eine neue Qualität.
Wenn nun die Szene diese Diskussion überhaupt nicht interessiert, was dann?
Wenn es Leute gibt, die es darauf anlegen, und wenn es gleichzeitig ein Potential von Leuten gibt, die aus unterschiedlichen Gründen - sei es als Zuschauer, sei es halb sympathisierend - daran teilnehmen, lassen sich derartige Dinge durch keine Polizeistrategie verhindern. Es kann nur darum gehen, über möglichst gemäßigte Polizeieinsätze die Rechte der Anwohner Kreuzbergs zu schützen. Auf der anderen Seite ist die politische Linke in dieser Stadt gefordert, sich einzumischen, und vor allem die Leute aus dem autonomen Spektrum müssen klar Position beziehen. Es wird für dieses Problem keine polizeiliche Lösung geben.
Das ist in der AL Konsens?
Bei den bisherigen Diskussionen in der Fraktion und im GA besteht darüber Einigkeit.
Einigkeit auch mit dem Koalitionspartner?
Nach dem, was ich bisher an Stellungnahmen gehört habe, sehe ich da keinen großen Dissens.
Also keine Zerreißprobe für Rot-Grün?
Das sieht nicht so aus.
Das Gepräch führte Vera Gaserow
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