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Monströse Geschichten

Die „Ilias“ von Homer und Heyme auf dem Theater in Düsseldorf und Essen  ■  „Wirklich! heillose Dinge!

Zeus bei Homer/Schadewaldt

„Ilias“ I, 51

Ein gewaltiges Werk in jeder Hinsicht. Das erste große Stück Menschheitsgeschichte: die „Ilias“ des Homer. Ins Deutsche gebracht von dem verdienstvollen Philologen Wolfgang Schadewaldt - in deutsche Prosa von der edelsten Sorte. Der Zwingherr des Altgriechischen erwog kurz vor seinem Tod 1974 auch eine Theaterfassung des gigantischen Epos. Aber über Skizzen kam das Unternehmen nicht mehr hinaus. Auch das Fernsehen zeigte Interesse. Wahrlich, beim ruhmvollsten Zeus! Aus dem Mythos, der mit der eitlen Schönheitskonkurrenz der Göttinnen Hera, Athene und Aphrodite beginnt, das Urteil des Paris präsentiert und den Raub der Helena, den Aufbruch der achäischen Flotten und die zehnjährige Belagerung Trojas, der den Tod des Hektor und den Tod des Achilles, die Vernichtung endlich des kleinasiatischen Bollwerks einschließt, aus diesem Geflecht von Geschichte und Geschichten mit wenigstens 1.003 handelnden Personen und einem prallvollen Götterhimmel ließe sich gut und gern eine vielteilige Vorabendserie abdrehen. Doch, wie man hört, ist dieser Plan am Finanzrahmen des öffentlich-rechtlichen Rundfunksystems zerschellt.

Hansgünther Heyme aber, getrieben vom Dramaturgen Schmidt, machte das Unmögliche zum Bühnenereignis. Die Ensembles der Schauspielhäuser in Düsseldorf und Essen wurden zusammengewürfelt, denn immerhin mußten - bei aller Reduktion - sechzig Sprechrollen besetzt werden: ein Dutzend Göttinnen und Götter des Olymps, vier Hirten als Erzähler, je acht Haupthelden auf der griechischen und auf der trojanischen Seite, dazu noch acht Mann Fußvolk bei jeder Partei, acht Trojerinnen und acht Beuteweiber, ein Seher (Kalchas) und eine schöne Helena, die zumindest der Anlaß für das nicht enden wollende Gemetzel gewesen sein soll.

Die gerechten, aber streitsüchtigen Götter ließen Gnade walten und das Projekt gedeihen. Bei noch größerem Wohlwollen hätten sie ihren Schutzbefohlenen auf dem Theater Nachhilfeunterricht im Sprechen angedeihen lassen, auf daß sie die erhabene Sprache, die den Zorn singt und die Erhebung des unendlichen Krieges deklamiert, angemessener aus den Kehlen hervorgebracht hätten. Viele Kehlen aber werden durchbohrt oder abgeschnitten: Das war, weil weder vom Helm mehr noch vom Brustpanzer gedeckt, die verwundbarste Stelle der Krieger des klassischen Altertums. Die Choreographie der immer wieder hereinbrechenden Kampfszenen war höchst differenziert gestaltet: Alle Bewegungsformen, die ganzen Errungenschaften des modernen Tanztheaters wurden genutzt, um die Tollwut und die Mühsal, den Triumph der Helden und das jämmerliche Verrecken der Haudegen lebendig werden zu lassen. Vom Sturmangriff bis zum Wegkriechen der tödlich Geschlagenen wurden alle Facetten des Martialischen minutiös getroffen.

Für mehr als fünf lange Stunden hat Wolf Münzner nur ein Bühnenbild konzipiert. Aber das hat es in sich: Ein gewölbter Olymp erhebt sich als Stahlkonstruktion über der Ebene vor Troja; auf ihm gammeln die Götter dahin. Die schneebedeckte Bergspitze deutet auf den Platz des Donnerers Zeus, der in der Gestalt von Daniel Hajdu sich freilich eher wie ein Yuppie ausnimmt. Zu seinem Haupte dann eine Wolkenkratzerspitze mit Statue und Neonstrahlen: Symbole der fortdauernden Macht der ewigen Götter in wechselnden Hüllen. Ewig dekadent.

Im Hintergrund des kleinasiatischen Küstenstreifens grasen ein stummer weißer Ochse und ein aufmerksamer Esel, der die Helden keinen Augenblick aus den Augen läßt. Je einen Laufgraben hat Heyme den beiden kämpfenden Parteien zugeordnet - der griechische wird von Sandsäcken gedeckt, der türkische von Weidenkörben, die mit Dreck gefüllt sind. Rechts und links dann noch Andeutungen der Achaierschiffe und der Feste Troja, Schiffsleitern und Stadttore. In der Mitte aber trennt ein Wassergraben die Streitenden, wenn sie sich nicht in der Schlacht ineinander verkrallen. Aus ihm taucht Thetis, die Mutter des Achill, um ihrem Sohn beizustehen; in ihm müssen die Fürsten wie die Gemeinen waten und sich wehren; in ihm saufen die Durchbohrten und Angeschlagenen jämmerlich ab. Das muß genügen.

Den Terrorismus von Zeus, Athene (griechischerseits rechts) und Kriegsgott Ares (auf der unterliegenden Linken) führt Hansgünther Heyme drastisch vor Augen: das Nachsitzen in Geschichte wird richtig kurzweilig. Ganz und gar ist es keine Strafarbeit, die der Zuschauer diesmal bei Heyme ertragen muß; sondern der überzeugende Versuch, einen sinnvollen Ausschnitt aus dem großen Epos - vom Streit der griechischen Fürsten über Kriegsziele, Strategie und Beute bis zum Tod des Hektor - nicht in Vergessenheit geraten zu lassen. Ein Zug zum Monumentalen trägt das Unternehmen gewiß. Der aber ist bei Homer angelegt, von Schadewaldt verlängert, von Heyme mit böser Lust herausprozessiert. Daß sie nicht enden können, schreibt Ernst Bloch, das macht die großen Werke groß.

Frieder Reininghaus

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