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Aussiedler sind Deutsche - aber...

Bonner Koalition will Aussiedlern einen Wohnort aufzwingen / Sozialhilfe und Wohngeld an diesen Ort gebunden / Kabinett verabschiedet Gesetzentwurf / Widerspruch zum Grundgesetz, das Freizügigkeit für Deutsche garantiert / Statt Arbeitslosengeld Eingliederungshilfe  ■  Aus Bonn Ferdos Forudastan

Aussiedler sind Deutsche - fast jedenfalls. Sie genießen die gleichen Rechte wie alle Deutschen, bis auf ein paar Ausnahmen: Eine dieser Ausnahmen hat gestern das Bundeskabinett als Gesetzentwurf beschlossen. Aussiedler und Übersiedler sollen danach gezwungen werden, bis zu zwei Jahren an ihnen zugeteilten Wohnsitzen zu leben. Andernfalls bekommen sie keine Sozialhilfe und kein Wohngeld mehr. Somit würden Gemeinden in Zukunft nur noch solchen Aus- und Übersiedlern Sozialhilfeleistungen gewähren, die ihnen vom jeweiligen Bundesland zugewiesen worden sind. Nur ganz wenige Aussiedler werden von dieser Regelung, die drei Jahre gelten soll, ausgenommen sein: jene, die bereits bei ihrer Ankunft einen „geeigneten“ Wohnraum, Arbeits-, Ausbildungs-, und Studienplatz nachweisen können.

Die Bedeutung dieses Entwurfes: Ein entsprechendes Gesetz würde die Verfassung einschränken. Artikel 11 Grundgesetz garantiert nämlich die Freizügigkeit. Und dazu gehört unter anderem die freie Entscheidung darüber, an welchem Ort der Bundesrepublik man seinen Wohnsitz nehmen will. Auch wenn manche Gemeinden vor Aussiedlern überquellen - solange diese Menschen als Deutsche gelten, sind die Kommunen verpflichtet, sie aufzunehmen. Juristisch müssen die Aussiedler der Bundesregierung als Deutsche gelten: Seit Jahren fordert Bonn das Recht der Ausreise unserer „lieben Schwestern und Brüder“ aus Ostblockstaaten.

Zahlen hatten die Bundesregierung zum Handeln getrieben: 240.000 Aus- und Übersiedler kamen letztes Jahr in die Bundesrepublik. 1989 werden es mindestens 300.000 sein. Viele Gemeinden müssen die Neuankömmlinge aufgrund der Wohnungsknappheit in Lagern oder Containern unterbringen. Daß das Gesetz die Betroffenen an Orten festhalten wird, wo sie unter Umständen nicht leben wollen, will Horst Waffenschmidt, Staatssekretär im Innenministerium nicht einsehen: „Die können trotzdem frei herumreisen“, erkärte er gestern in Bonn. Daß kaum ein Aussiedler in eine Gemeinde ziehen dürfte, in der er weder Sozialhilfe noch Wohnungsgeld bekommen wird, erwähnte er dabei nicht. Fortsetzung auf Seite 2

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Auch die juristische Legitimierung der zukünftigen Grundrechtseinschränkung macht sich die Bundesregierung nicht schwer: Schließlich dürfe man laut Absatz 2 des Artikels 11 die Freizügigkeit teilweise verwehren, wenn für die Betoffenen keine ausreichende Lebensgrundlage vorhanden ist und daraus der Allgemeinheit besondere Lasten entstehen würden. Viele Aussiedler hätten nicht mehr genügend oder nur noch menschenunwürdigen Wohnraum zur Verfügung. Was Waffenschmidt dabei nicht erwähnt: „Ausreichende Lebensgrundlage“ bezieht sich nicht auf Wohnungsknappheit, sondern auf finanzielle

Not. Das hat das Bundesverwaltungsgericht schon vor vielen Jahren entschieden.

Auch in einem weiteren Punkt ändert Bonn seine einstmals vollmundig als „selbstverständliche Pflicht und Schuldigkeit“ gewährte Bevorzugung der Aussiedler: Vom Januar nächsten Jahres an sollen sie statt des bisherigen Arbeitslosengeldes ein pauschales Eingliederungsgeld erhalten. Verlust für eine dreiköpfige Familie: rund 250 Mark monatlich. Auf ein entsprechendes Artikelgesetz hat sich die Bonner Koalition geeinigt.

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