: Neutrale Waffen für die Welt
Schwedens Waffenproduktion, die einst die nationale Unabhängigkeit sichern sollte, ist heute exportorientiert / Die Sozialdemokratie ist mit der Rüstungsindustrie verfilzt / Ein SIPRI-Bericht über Waffenexporte wurde vor der Veröffentlichung zurückgezogen/Die taz berichtet über Ergebnisse der Untersuchung ■ Von Gunnar Köhne
Der Mann geht minutenlang auf dem U-Bahnsteig des Stockholmer Hauptbahnhofs rastlos auf und ab, und als seine Bahn endlich kommt, merkt er es nicht einmal - er verpaßt sie. Wenige Minuten später ertönt auf dem gegenüberliegenden Gleis eine kreischende Vollbremsung und ein dumpfer Knall. Der nervöse Mann mit dem Aktenkoffer, Carl-Frederik Algernon, Chef der königlich-schwedischen „Kriegsmaterialinspektion“ ist auf der Stelle tot. Selbstmord, sagt hinterher der Polizeibericht, doch Zeugen für diese Version gibt es nicht.
Wer sich wie der Friedens- und Konfliktforscher Wilhelm Agrell mit dem Sumpf der schwedischen Waffenindustrie beschäftigt hat, der kann sich auch vorstellen, daß Algernon am Abend des 15. Januar 1987 vor den Zug gestoßen worden ist. Agrell hat einen 40seitigen Bericht über die Praxis schwedischer Waffenexporte geschrieben und in diesem Zusammenhang noch einmal den Fall Algernon aufgerollt. Das Friedensforschungsinstitut SIPRI, das die Untersuchung in Auftrag gegeben hatte, hat inzwischen seinen Auftrag wieder zurückgezogen, weil die Ergebnisse angeblich nicht wissenschaftlichen Ansprüchen genügten. Agrell vermutet dagegen politische Motive.
Algernon, oberster Beamter für die Kontrolle von Waffenexporten, kam an jenem Abend von einer Besprechung mit dem Vorstandsvorsitzenden des Firmenkonsortiums „Nobel AB“, Anders Carlberg, zurück. Carlberg behauptete hinterher, Algernon in dem Gespräch offenbart zu haben, daß interne Untersuchungen bei der Nobel-Tochter Bofors etliche unerlaubte Waffenverkäufe in den Mittleren Osten zutage gefördert hätten. Allerdings, so der reuige Rüstungsmanager zu Algernon, bestünden „unsere Leute bei Bofors“ darauf, daß die Kriegsmaterialinspektion von den Transaktionen gewußt habe. Deshalb wollte er die Angelegenheit erst einmal mit dem Beschuldigten unter vier Augen besprechen.
Algernon war zweifellos einer der besten Kenner der schwedischen Rüstungsszene. Sowohl die „Robot 70„ -Lieferungen nach Dubai und Bahrain via Singapur als auch der verdeckte Munitionshandel mit dem Irak und dem Iran (siehe Kasten) gingen über seinen Schreibtisch. Bis zu Algernons Tod war die Kriegsmaterialinspektion eine Ein-Mann -Behörde mit wenigen Angestellten. Algernon allein stellte die Unbedenklichkeitserklärungen für das Außenhandelsministerium aus. Es ist anzunehmen, daß Algernon, einst selbst in der Rüstungsindustrie tätig, von den wirklichen Endabnehmern wußte. Nach dem Gespräch mit Carlberg muß ihm klar gewesen sein, daß seine Verwicklungen in die Todesgeschäfte mitauffliegen würden - das spräche für Selbstmord. Gleichzeitig mußte der Kriegsmaterialinspektor als Mitwisser von den Mittätern in Staat und Industrie gefürchtet werden - was für einen Stoß vor den Zug spräche. Jedenfalls fürchtete Algernon, zum alleinigen Sündenbock gemacht zu werden, wie aus einigen rechtfertigenden Eintragungen in seinem Notizbuch hervorgeht. Ohne nähere Erklärungen erwähnte er darin auch den Namen des früheren Ministerpräsidenten Palme im Zusammenhang mit einem „Oman -Geschäft“. Bis heute, so Wilhelm Agrell, ist diesem Hinweis nicht ernsthaft nachgegangen worden.
Palme in Schiebereien verwickelt?
Der sozialdemokratische Landesvater Olof Palme, in aller Welt als Abrüstungspolitiker geschätzt und vor nunmehr drei Jahren von einem feigen Mörder auf offener Straße hinterrücks erschossen - dieser Palme ein Beihelfer zu Waffenschiebereien? Vielleicht sogar deswegen umgebracht? Niemand in Schweden glaubt das ernsthaft, nur wenige fordern weiterhin energisch Aufklärung, obwohl so gut wie feststeht, daß Palme bei seinem Indien-Besuch im Januar 1986 Bofors einen Milliarden-Auftrag der indischen Regierung sicherte.
„Die Doppel-Moral der Politiker haben den letzten Respekt der Verwaltungen und der Industrie vor den Gesetzen untergraben“, meint Wilhelm Agrell. „Warum sollte ein Waffenhändler die Exportbeschränkungen ernst nehmen, wenn auch die Regierung damit überaus pragmatisch umgeht?“ In einem Protokoll versprach beispielsweise die Regierung Palme den Indern, daß die längerfristigen Bofors-Lieferungen auch für den Fall fortgesetzt würden, daß Indien in einen Krieg gerät. Ein klarer Verstoß gegen schwedisches Gesetz, das denn auch laut Protokoll-Text „für den Zweck und die Dauer des Programms“ außer Kraft gesetzt worden ist. Vor einem Untersuchungsausschuß des Reichstages verteidigte Ministerpräsident Carlsson diese Praxis: „Wenn wir nicht bereit gewesen wären, uns auf diese Bedingungen einzulassen, hätten wir den Vertrag nicht bekommen.“
Die „Wir„-Verbundenheit zwischen den Regierungen in Stockholm - seit 1940 fast ununterbrochen die sozialdemokratische SAP - und der einheimischen Rüstungsindustrie ist, wie Agrells Studie deutlich macht, historisch; entstanden aus dem Streben nach außenpolitischer Neutralität und nach einer Bewaffnung aus eigener Kraft, unabhängig von der internationalen Waffenindustrie. (Eine Lehre aus der Zeit des 2. Weltkrieges, als Schwedens Armee ausgerechnet von Material aus dem Deutschen Reich abhängig war.) Volvo liefert die Flugmotoren für die Jagdbomber von Saab, Bofors und Nobel sorgen für Munition und Artillerie und die staatliche FFV die Panzerabwehr.
Doch auch skandinavische Rüstungsfabriken können - oder wollen vom Bedarf der eigenen Armeen allein nicht leben, nach einer gewaltigen Wachstumsperiode durch die Wiederaufrüstung stagnierte die Waffenproduktion erstmals Mitte der sechziger Jahre. Hinzu kam, daß die Regierung den Rüstungsetat für fast zwei Jahrzehnte einfror.
Waffenlieferungen als „internationale Solidarität“
Um das Ziel der Vollbeschäftigung nicht zu gefährden, gaben die Sozialdemokraten staatliche Subventionen und gestatteten zunehmend die Ausfuhr von Waffen. Ausgenommen waren Länder, die sich im Krieg oder einem internationalen Konflikt befinden, und Staaten, in denen die Waffen zur Unterdrückung und Austragungn bewaffneter innenpolitischer Konflikte benutzt werden können. In den Genuß schwedischer Waffenhilfe sollten vornehmlich die „Verbündeten“ in der Blockfreien -Bewegung kommen. Palme verstieg sich sogar zu der Bemerkung, Waffenlieferungen in blockfreie Staaten wie Indien seien Akte der „internationalen Solidarität“.
Zwischen 1970 und 1985 stieg der Export-Anteil an der schwedischen Rüstungsproduktion von 20 auf 40 Prozent. Die Abhängigkeit der Rüstungsindustrie vom Export ist somit längst eine Tatsache. Wurden anfangs noch hauptsächlich europäische Neutrale wie Finnland und Österreich beliefert, betrug der Anteil Asiens (Indonesien, Pakistan, Burma, Singapur, Malaysia) an den Gesamtausfuhren 1980 schon 30 Prozent.
Entgegen den offiziellen Beteuerungen werden in Schweden Waffen auch längst nicht mehr primär für den eigenen Bedarf entwickelt. Die Flugabwehrrakete „Robot 70“ etwa entspricht den Anforderungen der schwedischen Territorialverteidigung höchstens aufgrund ihrer Mobilität - ihr Zielsuchsystem, so fanden Experten schnell heraus, ist für potentielle Schlechtwetter-Regionen mit langen, dunklen Wintern nur bedingt tauglich. Hunderte dieser Raketen ginge Anfang der achtziger Jahre an den sonnigen Golf.
Die Exportbestimmungen wurden von der Stockholmer Regierung von einem Instrument der Restriktion zu einem flexiblen Instrument der Legitimation von Rüstungsexporten gemacht. Die Sicherung der eigenen Außen- und Verteidigungspolitik und Wirtschaft rechtfertigten alle Ausnahmen - verdeckt mußte nur noch in regelrechte Kriegsgebiete wie den Iran geliefert werden. Auch das mit beidseitig zugedrückten Augen der Behörden, wie der mysteriöse Tod Algernons nahelegt.
Vor einem Jahr klagte Ministerpräsident Carlsson über den durch die Waffenaffären angeschlagenen Ruf seines Landes und dachte öffentlich über ein totales Exportverbot von Kriegsmaterial nach. Davon ist heute in Stockholm keine Rede mehr. Vielmehr schlug die „Medborgarkommission“ vor, solche Rufschädigungen künftig zu vermeiden, indem man die Exportbeschränkungen auf zwei neue Füße stellt: Waffenexporte sollten demnach künftig erlaubt sein, sofern sie der Aufrechterhaltung der „Materialversorgung der schwedischen Verteidigung“ dienen (will sagen, die Entwicklung von hochtechnischem Kriegsgerät lohnt sich für die Unternehmen nur, wenn es mehr als einen Abnehmer gibt) und den Prinzipien der schwedischen Außenpolitik nicht entgegenstehen. „Eine solche Änderung würde der schwedischen Rüstungsindustrie fast alle Märkte öffnen“, warnt Wilhelm Agrell.
Als möglicher neuer Waffenhandelspartner böte sich Vietnam an, auf die Weise könnten die Schweden etwas wieder gut machen. 1968 nämlich, als der damalige stellvertretende SAP -Vorsitzende Olof Palme an der Spitze von Vietnam -Demonstrationen durch Stockholms Straßen zog, schossen unter US-Flagge stehende australische Einheiten mit der Panzerfaust „Carl-Gustav“ auf Vietnamesen.
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