: Keine Flaute auf den Rängen
Finale im Europapokal der Pokalsieger: FC Barcelona-Sampdoria Genua 2:0 ■ Aus Bern Jürgen Theobaldy
Heuer kann man als Italiener zu jedwedem Europapokalfinale gehen: Die eine Hälfte des Platzes nehmen die eigenen Mannen ein; und zuzeiten der legendären Strafraumschlachten von Inter Mailand reichte dies in der Regel auch zum Sieg, weil ein einziger genialer Vorstoß über die selbstgesetzte Grenze hinaus zur entscheidenden Bestätigung eines nordbadischen Fußballweisen führte: Eins zu Null ist auch gewonnen.
Man hat für dieses Riegelsystem mit Gianni Brera, einem Fußballphilosophen des lombardischen Humanismus, den chronischen Proteinmangel des verarmten italienischen Volkes verantwortlich gemacht, das statt der Pasta häufig auf Polenta und Kastanien zurückgriff. Dazu kam eine historische Last: Nach dem Zerfall des Römischen Imperiums hätten die italienischen Männer so vielen ausländischen Kaisern und Befehlshabern dienen müssen, daß sie das Befehlen nicht mehr gewohnt gewesen seien. Sie hätten das Mittelfeld dem Gegner überlassen, diesen im eigenen Reduit erwartet, und, gewitzt durch die Erfahrungen ihres Flüchtlings aus Vorderasien, Aeneas, keinem einzigen trojanischen Pferd das Tor geöffnet.
Zur Offensive geboren
Augenscheinlich hat auch Mussolinis Strategie, jenen Mangel zu beheben, die Italiener nicht zu sich selbst befreit, zu dem nämlich, zu dem dieses warmherzige und lebhafte Volk doch geboren scheint: zur Offensive. Das scheint erst jetzt unter dem Einfluß der angelsächsisch-niederländischen Schule zu geschehen, der der jugoslawische Trainer Boskov von UC Sampdoria vor dem Spiel „mehr Charakter“ als der lateinischen zusprach.
Zwar heißt es von den Genuesen, sie besäßen mit Vialli und Mancini den besten rein italienischen Zwei-Mann-Sturm, dennoch schien bereits am Nachmittag in der Stadt eine Vorentscheidung gefallen zu sein: Von all den farbentragenden Schlachtenbummlern, die für eine unzeitgemäße Variante der Berner Gassenfastnacht sorgten, waren diejenigen aus Barcelona weitaus stärker präsent, auch wenn die Stadtpolizei nur 172 Busse aus Spanien und 232 aus Italien gezählt hatte.
Dieser Eindruck setzte sich im Wankdorf-Stadion fort. Dort stellten sich die Anhängerschaften als fast gleich große Blöcke dar, sauber getrennt von einem frischgezogenen Schutzkorridor, in dem die Polizisten, wie man so sagt: Aufstellung bezogen. Doch wirkten die Italiener mit ihrem Ballongefuchtel zunächst seltsam durchorganisiert. Sie hatte auch zur Begrüßung der Mannschaften deutlich weniger Rauchkerzen, Bombenschläge und bengalische Feuerhölzer durch die Kontrollen geschleust als ihre Nachbarn und Gegner.
Fanatiker-Emanzipation
Überhaupt ein starker Eindruck: Die Emanzipation der Ränge vom Spielgeschehen im engeren Sinn ist inzwischen so weit fortgeschritten, daß man den Fanatiker aus früheren, proteinarmen Jahren, der bleich und mit nasser Stirn dem Führungstreffer und dann dem Schlußpfiff wie einer Erlösung entgegenzitterte, nicht mehr antrifft. Die Aktivitäten der singenden und tanzenden Fans beginnen sich zu verselbständigen und können sich vorübergehend auch gegen das Spiel auf dem Rasen richten, wo tiefhängende Rauchschwaden beinahe eine Unterbrechung wegen Nebels provozierten.
Die spanischen Fans feierten den Führungstreffer in der vierten Minute durch Salinas mit triumphalen Gesängen und donnernden Rhythmen, in Vorfreude auf den Ausgleich oder aus einem unbedingten Ja zum Leben, das einmal am Tag und auf jeden Fall in dieser Tempelanlage raus muß.
Der Himmel dunkelte langsam ein, unten im Flutlicht blieben die Farben erhalten, und von den nahen Hochhäusern strahlte ein neutrales Schweizer Fenster nach dem anderen auf. Die Sampdorianer schienen stärker zu kämpfen, aber tatsächlich brauchten sie nur mehr Kraft als die gekonnter wirkenden Katalanen, und als in der zweiten Halbzeit der Sturmlauf auf den Ausgleich einsetzte, zog das Spiel als solches das Publikum überhaupt erst in den Bann: Um jeden Ball wurde gerannt, und jeder Absatztrick warf einen Orkan von Ovationen auf. Das war die Phase des Kampfes, der Dramatik, in der kein Rausch und nichts Heiliges, es sei denn der Gute Geist aus Spiez, anwesend war, bevor dann der eingewechselte Lopez Recarte nach einem klassischen Konter, denn Konter sind immer klassisch, elf Minuten vor Schluß das Grande Finale entschied.
Dieses Tor war dann doch für einige italienische Schlachtenbummler das Signal, die Ballons loszulassen, die Bummelei aufzugeben und sich ganz auf die Schlacht und ihre Fortsetzung mit eigenen Mitteln zu konzentrieren. Flaschen, Dosen und Räucherstäbchen flogen in und über den Schutzkorridor, in dem die Polizisten auf einmal wie Gefangene aussahen. Rechts und links wurden durch die zurückweichenden Massen erdige, müllübersäte Stehränge frei, und das war plötzlich ein Bild der Häßlichkeit, nicht anders als die Streetfighter-Szenen selbst, die vielleicht nur deshalb harmlos blieben, weil die Schweizer in ihrer klugen und wehrhaften Voraussicht von vornherein nur 45.000 statt der möglichen 60.000 Zuschauer ins Stadion gelassen hatten.
Ein Blick zurück auf den Rasen: Überraschenderweise hatte sich dort nichts geändert. Das Spiel blieb schnell und im Rahmen, und nach dem Schlußpfiff entstanden gerade soviel Wirrnis und Tumult dort unten, daß der Siegeslauf der Katalanen viel provinzieller aussah als wahrscheinlich im Fernsehen.
Zuletzt verließ ich das Wankdorf-Stadion mit einem schalen Geschmack wie nach einem Stadtteilfest, doch, bald umströmt von den Fans auf ihrem Tanz zurück in die Stadt, sah ich etwas Erstaunliches: deren Freude war augenscheinlich herzlich und echt. Zwar kann man es auch so sagen: Das Familienunternehmen Sampdoria war nicht in der Lage gewesen, dem multinationalen Konzern aus Barcelona entscheidende Marktanteile auf dem Weg zur Gründung einer europäischen Fernsehliga abzujagen; aber ein solches Resümee ist nur eine von mehreren Wahrheiten dieses Abends.
GENUA: Pagliuca - Luca Pellegrini (49. Bonomi) - Lanna, Mannini (28. Stefano Pellegrini), Salsano - Victor, Pari, Cerezo, Dossena - Vialli, Mancini
BARCELONA: Zubizzareta - Urbano, Aloisio, Milla (61. Miguel Soler), Alesanco - Eusebio, Amor, Roberto - Lineker, Julio Salinas, Beguiristain (75. Lopez Recarte)
SCHIRI: Courtney (England)
REPORTER: Jürgen Theobaldy (Bern), Dichter und Romancier, diverse Veröffentlichungen bei Rotbuch und Rowohlt.
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