„Sie sind alle so lieb hier, Schwester“

Was „Pflegenotstand“ alles heißen kann, lernt man noch nicht bei einer einzigen Frühschicht im Krankenhaus Daß Schwestern und Pfleger für viel zu wenig Geld Schwerstarbeit leisten, kann aber jedeR ohne Mühe erkennen  ■  Von Bettina Markmeyer

Bielefeld (taz) - Schwester Toni läßt keinen Zweifel daran, daß sie über gewissen Dingen steht. Und speziell steht sie über dem „Pflegenotstand“ genannten Medienereignis der letzten Monate.

Nicht, daß sie der Meinung wäre, den Pflegenotstand gäbe es gar nicht, oh nein. Aber während in den Zeitungen und auf der Straße geschrieben, geredet, gewarnt und protestiert worden ist, sind die Schwestern auf der Station 5 weiter gerannt; da wird man nüchterner. Im Schwesternzimmer liegen noch ÖTV-Flugblätter vom Warnstreik, aber „während die einen unten waren, haben die anderen hier oben weitergemacht. Das ginge doch sonst gar nicht.“

Die Station 5, das ist die Chirurgische im städtischen Kamener Krankenhaus: ihre Station. 35 Jahre ist Schwester Toni im Beruf. Gerannt ist sie immer, als Schülerin, Schwester, Stationsschwester, „aber in den letzten fünf Jahren ist es wieder schlimmer geworden“. Sie hat schon den Pflegenotstand in den sechziger Jahren mitbekommen, und sie hat gesehen, wie die Arbeit im Laufe der Jahre mehr wurde immer mehr, ohne daß auch nur eine einzige Schwester auf ihrer Station hinzugekommen wäre. Sie ist eine vom alten Schlag: rauh, doch auch herzlich; streng, aber bei jeder Arbeit selbst dabei. Sie verlangt eine Menge, denn sie hat all die Jahre versucht, die Arbeit trotzdem zu schaffen. Um am Pflegenotstand etwas zu ändern, müßte viel geändert werden.

Aber darüber reden wir erst später, zwischen Essentabletts und Medikamentenwagen; jetzt, kurz vor sechs, wird nicht viel geredet. Übergabe: die Nachtschwester berichtet das Wichtigste, dann nimmt sie ihre Tasche: „Tschüß!“ - Toni steht auf. Stühlerücken. „Na, dann wollen wir mal.“ Der Tempowechsel könnte abrupter nicht sein. Türen auf, „Guten Morgen!“

In 17, von der Nacht noch stickigen Zimmern passiert alles gleichzeitig: wecken, Betten machen, bettlägerige PatientInnen waschen, Nachttische abräumen, Eisbeutel einsammeln - und die ersten Anleitungen nach der Operation. „Kommen Sie mal mit!“ Schwester Toni winkt Herrn Helmig. Gestern hat er am linken Unterschenkel einen Gips bekommen. „Wie nett, wir beiden ganz alleine“, kommt es prompt zurück. „Hier, das Bein auf die Waage, und jetzt belasten Sie mal“, erwidert Toni höflich.

Gesprächsfetzen: „Gucken Sie mal hier, Schwester“ und „Komme ich heute zur Untersuchung?“, und Frau Koschnik hat „wieder so schlecht geschlafen“. - „Da haben wir schon früh kaum noch Zeit für, müßten wir aber haben“, sagt Schwester Elke, „um mit den Leuten zu reden. Statt dessen hast du immer nur den Ablauf im Kopf.“ Das bleibt so, den ganzen Tag über. Nicht nur Gespräche und zusätzliche Handgriffe, auch die eigentliche Pflege kommt zu kurz.

Um kurz nach sieben müssen alle PatientInnen gewaschen und die Betten gemacht sein, „das muß geschafft werden, egal wie“, denn um sieben „kommt der Wagen“. Der Essenswagen das ist so etwas wie der tägliche Scharfrichter auf Station 5. Ein fahrbarer Aluminiumkasten, einsfünfzig hoch, in den von vorn die Essentabletts auf kleinen Schienen eingeschoben werden. Wenn der Wagen kommt, müssen die Schwestern das Essen verteilen. In der Zeit dazwischen, der Zeit, die sie selbst einteilen könnten, rennen sie gegen die Uhr. Für den ganzen Druck dieser alltäglichen Hetze hat Toni einen knappen Satz: „Wenn ich den Wagen schon wieder sehe, sehe ich rot.“

Um halb zwölf kommt der Wagen wieder, bis dahin wird verbunden, geputzt, geschrieben, werden PatientInnen in den OP gebracht und abgeholt, wird entlassen und aufgenommen, wird getröstet und geschimpft, Blut abgenommen und Laufen geübt, werden Betten nochmals gemacht, Bettpfannen geleert, werden Angehörige benachrichtigt und ärztliche Anweisungen befolgt. Unter den ständig fragenden Augen der PatientInnen, am unteren Ende der Hierarchie von spezialisierten ÄrztInnen und Krankenhausverwaltung, machen Schwestern und Pfleger immer noch alles.

Schwester Elke geht verbinden. Zuerst Frau Panneck, die jeden Satz mit „Ja, Schwester, nein, Schwester, aber gerne, Schwester“ und „Sie sind hier alle so lieb, Schwester“ beendet. Elke verdreht die Augen. Das ist genauso aufreibend wie der Feldwebelton von Frau Weihe, die Krankenschwestern offensichtlich mit Leibeigenen verwechselt. Die alte Frau Szcalik braucht man nur freundlich anzuschauen, dann erzählt sie lange, unverständliche Geschichten von ihrem Sohn, dem das Blut „dick“ wurde. In den Männerzimmern kommt der ständige Tanz um die lauernde Anmache hinzu. Die routinierten Handgriffe, mit denen Elke dicke Knie einreibt, Verbände wechselt, einen drückenden Gips begradigt werden dabei fast zur Nebensache. „Ruhig“ sei es heute, meint Elke, etliche Betten sind nicht belegt. Für meine Begriffe ist gut zu tun, ständig geht irgendwo die Klingel.

„Die Hallmannschen Hacken“ will Schwester Toni selber sehen, offene, teilweise schon schwarze Fersen einer zarten 90jährigen. Für durchgelegene Beine hat Toni ein eigenes Rezept, „guck“, sagt sie zu Elke, während sie abgestorbene Hautfetzen wegschneidet, „hier bildet sich schon neue Haut“. Es kann Wochen dauern, bis die Füße wieder heil sind. Geduld, Geduld. Noch beim Verbinden wird Toni schon wieder weggerufen, Elke macht allein weiter.

Diese paar Stunden zwischen Frühstück und Mittagessen, in denen das Bild von der immer eiligen Schwester abwechselt mit Momenten der Ruhe und Intimität, in denen auf lockere Scherze psychische Zerreißproben folgen, genügen vollauf, um zu begreifen, daß Leistung und Entlohnung in diesem Beruf nichts miteinander zu tun haben. Den enormen Anforderungen steht für die HelferInnen selbst nicht einmal ein Minimum an Hilfe gegenüber. Begleitende Gespräche oder Supervision wie in anderen Berufen mit hohen psychischen und sozialen Anforderungen gibt es nicht.

1.500 Mark netto verdient eine examinierte Schwester, dafür macht sie Früh-, Spät- und Nachtschichten, Wochenend- und Feiertagsdienst. Elf Planstellen - nach dem Personalschlüssel von 1969 - hat die Station 5 des allgemeinen Krankenhauses in Kamen. „Meist“, sagt Schwester Elke, „machen wir hier den Dienst zu dritt oder viert, manchmal auch mit zweien“. Das sind immer um 40 Patienten, davon viele Frischoperierte. Fünf Jahre bleiben Schwestern heute durchschnittlich in ihrem Beruf, länger nicht.

Eine ganze Generation von Kolleginnen hat Schwester Toni kommen und gehen sehen. Während die Medizin den kranken Menschen immer mehr in seine heilbaren Einzelteile zerlegt und Alte in Heime ausgelagert werden, hat sich am Berufsbild der dienenden und helfenden Zunft nicht viel geändert. Schwestern sollen Körper und Seele pflegen, sie sollen die gütige Mutter und die technisch versierte Intensivpflegerin in einer Person vereinen, sie sollen sich alles sagen lassen und selbst immer ein passendes Wort finden. Sie sind in ein Rennen geraten, das sie nur gewinnen können, wenn sie eigene Regeln aufstellen.