: Die näheren Umstände der moralischen Kraft
■ Erfahrungen einer sowjetischen Feuerlöschbrigade aus Kiew im Jahr 1941
FREITAG, 19/5/8915
Alexander Kluge
„Alles, was die Menschen in Bewegung setzt, muß durch ihren Kopf hindurch, aber welche Gestalt es in den Köpfen annimmt, hängt sehr von den Umständen ab.„(Friedrich Engels)
Es war nicht Mut, auch keine bestimmte Moralauffassung, daß die sowjetische Feuerwehrbrigade Kiew mit 216 Fahrzeugen sich ostwärts über den Dnjepr absetzte, um Mannschaften und Fahrzeugpark dem Vorstoß der faschistischen Horden zu entziehen. Ebenso ist es kein Mut, auch keine bestimmte Moralauffassung, sagte der Adjutant des Feuerwehrchefs, daß wir, als wir in der Entfernung des anderen Ufers die Brände in Kiew jetzt als etwas Wirkliches sahen, uns in hoher Geschwindigkeit mit dem Konvoi über die Brücken zurückbegaben, in die Stadt zurückfuhren. Das war eine Entscheidung des praktischen Handwerks und nicht einer geistigen, höheren Regung, wie es die Moralität ist.
Der Adjutant, S.I.Antonow, hatte einen Tee zubereitet. Der ihn befragende Publizist Jagorski tunkte Zucker in den Tee und legte ihn auf die Zunge.
Jagorski: Wollen Sie sagen, das steckte sozusagen in den schnellen Fahrzeugen drin?
Adjutant: Genau. Es hing ab von dem Blick aufs Ganze, den wir nicht hatten, während wir in den 13 Stunden seit Alarmierung gewissermaßen eilfertig am einzelnen Gebäudeblock löschten, Schneisen rissen: Wir sahen zu dem Zeitpunkt nicht den Brand, sondern das Objekt. Sozusagen blickten wir mit Schläuchen und nicht mit den Augen. Das brachte erst die Absetzbewegung zustande, daß wir Kiew als Ganzes in Brandwolken sahen.
Sie behaupten, daß daraufhin sich die wohlausgerüsteten, wenn auch schon verbeulten Fahrzeuge wie von selbst zur Front, die Sie eben verlassen hatten, in Bewegung setzten?
Ich leugne nicht, daß Mannschaften und Führungskader darin saßen.
Aber das handwerkliche Element, das das Ausmaß der Brände sah, fuhr sozusagen mechanisiert auf dieses Gesamtobjekt zu?
Dafür waren wir ausgebildet. Die Gerätschaften waren genau für diesen Zweck da.
Sahen Sie die Deutschen?
Wir fuhren an ihnen vorbei.
In welcher Geschwindigkeit?
Geschwinde.
Hatten Sie nicht die Befürchtung, von den verstoßenen deutschen Truppen gefangengenommen, beschossen zu werden, ihnen in den Rachen zu fahren?
Wir sahen nicht hin.
Aber Sie sahen, daß es deutsche Truppen waren, die vorgingen?
Wir fuhren ja durch sie durch.
Wie reagierten die Deutschen?
Erstaunt. Etwas begriffslos.
Schossen sie?
Nein. Es war ja klar, daß wir zu den Brücken wollten.
Sie meinen, daß die Deutschen Ihre Fahrt innerlich billigten, immerhin 216 Fahrzeuge, mit roten Sternen gekennzeichnet, die in die Stadt hinein wollten?
Sie stutzten, riefen uns an, und wir waren schon als einzelnes Fahrzeug vorbei.
Aber als Kolonne?
Löste wohl Verwunderung aus.
Sie sagten aber, Sie hätten gar nicht hingesehen?
Wir sahen den Brand, den wir aus fünf Kilometer Entfernung als Ganzes noch im Auge hatten.
Ihre Augen hatten deshalb keine Zeit, jetzt Beobachtungen anzustellen?
Nein. Einerseits Trümmerstellen, Trichter, die Kolonnengeschwindigkeit halten, andererseits das Objekt im Auge, das ja jetzt nicht mehr zu sehen war vor lauter Details.
Sie können also gar nicht sagen, was die Deutschen dachten, wie sie reagierten?
Doch. Wir beobachteten ihre Haltung, um sofort zu reagieren.
Was hätten Sie getan, wenn die Deutschen Sie beschossen hätten?
Teilweise geschah das, wir unterfuhren das Feuer.
Eben noch sagten Sie, die Deutschen hätten erstaunt hingesehen, aber nicht geschossen.
Das haben Sie falsch verstanden. Selbstverständlich warfen sich einige, nach Überwindung ihrer Verwunderung, zwischen die Fahrzeuge. Sie wurden überfahren.
Sie sagten es vorhin anders.
Es war auch insofern vielschichtig, als sie die Hauptsache nicht verhinderten. Dies führen wir darauf zurück, daß unser Einsatz, vom handwerklichen Standpunkt gesehen, plausibel war und vom Gegner verstanden worden ist. Das hielt ihn hin.
Hatte der Gegner Zeit, sich von seiner Verblüffung zu erholen?
Sie sehen das nicht richtig, weil Sie nicht dabei waren. Der faschistische Feind, in seinen vereinfachten Gedankengängen, kann nicht ruckartig von „Verständnis“, gleich, worauf sich das bezieht, auf „Eröffnung der Feindseligkeiten“ umprogrammieren, wenn sich das „Verständnis“ auf etwas bezieht, das an sich nichts „Feindseliges“ ist. Wir wollten ja löschen. Er muß dann, rein von der kriegerischen Tüchtigkeit her, erst innerlich schalten. In dieser Aufstellung seiner Motive kann er nichts gewinnen, auch wenn er zahlreich und bewaffnet ist. Seine Gewehre haben dann keine Tendenz, gewissermaßen von selbst loszuschießen. Inzwischen waren wir vorüber.
Sie sagten, Sie hätten gar nicht hingesehen, entwickeln aber eine detaillierte Theorie, was die Reaktion der Deutschen ist. Wie vereinbart sich das?
Es ist nicht zu vereinbaren. Sie müssen sich die Kolonne konkret vorstellen. Es sind mächtige und rasche Fahrzeuge, die um die Ecke der Twerskaja jagen, und zwar in einem Bogen oder Schlenker, weil die Trägheit die Fahrzeuge aus der Kurve auf die Bürgersteige trägt. Wir hatten tatsächlich nur zwei Arten von Eindrücken, einerseits äußerst detaillierte, zum Beispiel Vermeidung der Litfaßsäule kurz nach Ecke Twerskaja, die Trottoirkante ist etwa 60 Zentimeter vom linken Reifen entfernt, und andererseits einen sehr allgemeinen Eindruck von der Gipfelhöhe der Brandwolke, die wir 20 Minuten zuvor aus der Ferne sahen. Möglicherweise sahen unsere Augen noch anderes; maßgebend für die Erreichung des Zieles waren die Nebeneindrücke nicht.
Entspricht es nicht doch einer hohen sozialistischen Moral, durch den Feind hindurch zu den Brandherden zu eilen, diese mit Präzision und vollständig zu löschen und noch die Absetzbewegung über die Brücken, ostwärts zurück, ohne Mannschaft oder Gerät zu verlieren, zu vollbringen?
Ich möchte sagen, daß sozialistische Moral eine besonders hohe Tugend darstellt, für die unter den gegebenen Umständen kein Raum da war.
Liebe zur anvertrauten Stadt gehört anerkanntermaßen zum Bestand sozialistischer Moral. Hat Sie dies nicht auch bewegt?
Ich bezweifle, daß dazu Gelegenheit war. Sozialistische Moral, als der höchste der Werte, sitzt gewissermaßen auf dem Podium. Dazu braucht man einen Saal, Zeit zur Einberufung der Versammlung, Eröffnung, Referat usf. Dies alles konnte nicht stattfinden.
Was bewegt Sie aber innerlich? So wie Sie von den Faschisten gesagt haben, daß deren Motive und Eindrücke im gegebenen Moment so aufgestellt waren, daß ihnen nichts gelingen konnte. Was ist die innere Grundlage Ihres Sieges über die Brände von Kiew?
Wir hatten kein solches inneres Programm, wenn Sie das meinen, da dafür keine Zeit war. Dazu gehört Selbstbewußtsein, wie es die Faschisten an diesem Tage hatten. Dieses Selbstbewußtsein hat sie verwirrt.
Das Hineinjagen in eine besetzte Stadt, Anwendung der Löscherfahrung und Rückzugsgeschehen sind aber durchaus „selbstbewußt“.
Sie stellen sich das immer noch nicht richtig vor. Eine Kolonne von 216 schnell dahinfahrenden Lösch- und Hilfsfahrzeugen durch zum Teil trümmerbedeckte Straßen, da eine Bohle, da eine Sperre, wie nähern wir uns - orientiert an einem Allgemeinbild, das 20 Minuten alt ist und sich auf das Ganze der Stadt bezieht, nach Himmelsrichtungen geordnet, das geht im Gewirr der Straßen verloren; wie verteilt sich die Kolonne in Teilgruppen, die zu den einzelnen Brandobjekten fahren. Gehen wir den brennenden Block von den Höfen her an, weil sich die Blockeinfahrt noch passieren läßt, wir unterfahren dann ein Stück Brand, oder fahren wir so in eine Falle, falls es nämlich nicht gelingt, den Block zu löschen? Alles das sind detailreiche Führungsentscheidungen, die sich mit Selbstbewußtsein nicht vertragen. Sie erfolgen sozusagen weit unterhalb der Führungskader, die auf Zuruf reagieren und Befehle im nachhinein brüllen als Bestätigung von etwas, das längst geschieht. Sie können das nicht mit dem Kopf machen. Der Kopf, als Sitz übrigens der Moral, fährt hinter den Ereignissen her.
Hätte man in diesem Sinne nicht die deutschen Truppen aus Kiew zurückschlagen können? So wie Sie als Feuerwehrmänner hätten ja auch die sowjetischen Truppen nochmals in die Stadt hineinfahren können.
Unbedingt. Wir waren vor Kiew glatt die Überlegenen.
Und warum der Rückzug?
Sie sehen auch das vom vereinfachenden Standpunkt des bürgerlichen Selbstbewußtseins: „Die Welt zentriert da, wo ich bin. Ich Ich. Hier Hier, wo ich bin. Überlegenheit Überlegenheit.“ Die Schlacht um Kiew ist aber 300 Kilometer im Hinterland in der Gegend von Uman entschieden worden, und es macht wenig aus, wie wir - ich meine jetzt die Truppen unserer Seite - uns bei Kiew fühlten oder wie stark wir waren. Sie müssen als die Überlegenen weichen, weil Sie als Teil des sozialistischen Ganzen umgangen sind. Das wußten wir. Nur daß man das nicht sehen kann. Andernfalls, das gebe ich Ihnen zu, hätten wir Auswege gefunden, die es ermöglicht hätten, Kiew zu halten. Es fehlte uns nicht an Erfindungsgeist. Das Problem ist, daß man die Niederlage nur auf Papierkarten einzeichnen kann, man sieht sie nicht wie die Brände.
Erhielten Sie für Ihren Einsatz später Belohnung?
Nein.
Wurde nicht bekannt, was Sie geleistet hatten?
Es war eine isolierte Lebensäußerung, keine Leistung.
Wieso nicht?
Vielleicht war es nicht wichtig zu löschen. Man versorgte die deutschen Kommandos mit Quartieren.
So ist es aber, vom Klassenstandpunkt der Bewohner, nicht korrekt gesehen.
Das ist schwierig zu beurteilen. Es war mehr eine Instinkthandlung.
Vom Standpunkt der sowjetischen Propaganda aber eine tapfere Tat.
Trotzdem keine Belobigung.
Und warum, nehmen Sie an, erfolgte diese nicht?
Weil wir nicht mehr erreichbar waren.
Wieso nicht? Sie hatten sich doch abgesetzt.
Ja. Wir durchbrachen jetzt in drei parallelen Kolonnen, um die Geschwindigkeit zu erhöhen, die deutschen Linien nach rückwärts.
Die schossen hinter Ihnen her?
Eifrig. Die Wassertanks waren aber leer.
Und wieso waren Sie dann nicht mehr zu erreichen?
Wir verloren unsere Funktion.
Wurden strafweise abgesetzt?
Nein. Wir befanden uns jetzt in der Steppe. Es gab nichts zu löschen.
Die Benzingutscheine wurden Ihnen abgenommen?
Wir fuhren 300 Kilometer. Es gelang aufzutanken. Es gab hier im flachen Land keine Aufgabe für eine kombinierte Löschkolonne.
Was taten Sie?
Wir wollten nach Kriwoirog.
Ihre Absicht dort?
Den Wert der kombinierten Kolonne erhalten, was nur für ein großes Objekt lohnend ist. In einem Dorf hat eine kombinierte Kolonne von 216 Lösch- und Hilfsfahrzeugen keinen Zweck. Ein Dorf kann gar nicht so brennen, wie wir zu löschen vermögen.
Also lösten Sie sich auf?
Das hätte den Wert des Löschkombinats zerstört. Den gerade suchten wir zu erhalten.
Und wieso kamen Sie nicht bis Kriwoirog? Hatten Sie kein Benzin mehr?
Doch. Davon erhielten wir, soviel wir wollten. Die Depots waren froh, das Benzin loszuwerden.
Dann konnten Sie doch fahren.
Uns überfielen in der Steppe Zweifel.
Woran?
An dem inneren Wert einer kollektiven Löschkolonne. Wir lösten uns auf.
Das war schade.
Fanden wir auch. Wir vermochten unsere Zweifel in dem flachen weiten Land nicht zu bezwingen.
Was hieß die Auflösung praktisch?
Je zwei Fahrzeuge schlossen sich einer zurückmarschierenden Division an. Damit war das Löschkombinat zerfallen. Wir löschten noch jeweils einzelne kleine Objekte.
Warum hielten Sie nicht zusammen?
Das ist eine Frage des Selbstgefühls. Die Fahrzeuge wollten nicht mehr in der Steppe. Wenn wir Trecker gehabt hätten, die langsamer waren, wären wir eine landwirtschaftliche Kolonne geworden, die Kornbestände rettet.
Sie hätten Ihre leere Tanks mit Korn beladen können. Es fließt aus den Silos nach den gleichen Gesetzen wie Wasser.
Und wie hätten Sie die Tanks anschließend wieder von den Spelzen gereinigt?
Das weiß ich als Nichtfachmann nicht.
Unser Selbstwertgefühl hielt uns davon ab, die Fahrzeuge in dieser Weise zu schädigen.
Sie sprechen von Selbstbewußtsein und Selbstwertgefühl, was ist der Unterschied?
Das Selbstwertgefühl bezieht sich auf die Leistung der Schläuche, Fahrzeuge und Aggregate.
Sie sprechen davon mit einem skeptischen Unterton?
Es gibt einen subjektiven Überhang gegenüber der Eigentätigkeit der Maschinerie. Wir hätten auf diese vertrauen müssen.
Von den Maschinen lernen?
Gewiß. Dann wären wir zusammengeblieben.
Und Sie wären belohnt worden?
Ja, weil wir dann erreichbar gewesen wären.
Übersetzung aus dem Russischen durch Sergej F.Shili
Dankend entnommen: „Zwischenbetrachtungen im Prozeß der Aufklärung, Jürgen Habermas zum 60. Geburtstag“, hrsg. von Axel Honneth, Thomas McCarthy, Claus Offe, Albrecht Wellmer, Suhrkamp-Verlag, 839 Seiten, 98 DM. Ab Mitte Juni in den Buchhandlungen.
Hier kommt: James Dean und Liz Taylor
Elizabeth Taylor und James Dean in „Giganten“ von George Stevens, 1955.
Foto aus: Jubiläums-Portfolio des Verlages Schirmer/Mosel.
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