Nach dem 1.Mai - Ein scharfer Trennungsstrich mitten durch die Kreuzberger Linke

Nach der Randale vom 1. Mai wird heftig diskutiert / Zum ersten Mal haben sich Linke und Alternative im Stadtteil eindeutig von der Gewalt distanziert Zum ersten Mal seit langem kamen Reformer und Autonome wieder miteinander ins Gespräch / Das Thema nach wie vor: „Zur Revolution gibt es keine Alternative“  ■  Von Brigitte Fehrle

„Ich arbeite in einem reformistischen, selbstverwalteten Projekt. Bin ich jetzt Eure Feindin?“, fragte eine Frau in schwarzem Leder auf einem der vielen Kieztreffen in Berlin -Kreuzberg nach dem 1. Mai die Autonomen. Sie sprach damit aus, woran viele zweifelten: Gibt es nach der Randale noch eine gemeinsame politische Ebene zwischen Autonomen und anderen politischen Gruppen und Initiativen. Gilt noch das Prinzip des linken Bündnisses zu Zeiten des IWF-Kongresses, wonach die Aktionen so sein sollen, daß sie nebeneinander stehen können, sich nicht gegenseitig bekämpfen. „Einen klaren Trennungsstrich zwischen uns und dem Feind ziehen“, eine autonome Parole, die nicht nur im taz-Flur gesprüht wurde. Inzwischen geht die Spaltung mitten durch die Kreuzberger Linke, scharf entlang an der Grenze derer, für die es zur „Revolution keine Alternative“ gibt. Wer allerdings den Strich gezogen hat, darüber ist man konträrer Ansicht. Die autonomen Gruppen sagen: Die Reformlinken und die AL mit ihrer „Distanzierungsorgie“ nach der Mai-Randale. Die anderen: die Autonomen, mit ihrer „sinnlosen Gewalt“, die letztlich reaktionär sei, sich gegen den eigenen Kiez und die Bevölkerung gerichtet habe. Doch so tief der Graben auch sein mag, nach der Randale wurde auf einigen Teffen im Kiez zum ersten Mal wieder geredet. Zwar häufig aneinander vorbei, doch immerhin mit Geduld.

Letztendlich kreist die Diskussion um die Frage, ob es noch politisch zu nennen ist, wenn ohne offenkundigen Anlaß, ohne Not, Läden geplündert, Scheiben eingeschmissen und Autos angezündet werden. Ist es revolutionär, Polizeibeamte mit Steinen zu beschmeißen, ohne daß von ihnen eine Bedrohung ausgegangen war. Für die Autonomen ist klar: Ja. Denn der Kampf gegen die strukturelle Gewalt, der Haß auf den Staat und die Unterdrückung rechtfertigt es. „Taktische Fehler“ werden zwar zugegeben, der Angriff auf die Sex-Shops, Spielhallen und Supermärkte aber als gezielte Aktion verteidigt. Ausreißer, Selbstläufer und die Eigendynamik der Aktion werden dabei bewußt in Kauf genommen. „In der Aktion stell ich mich doch nicht hin und spiel den Sozialbullen“, sagte ein Autonomer kürzlich, als er gefragt wurde, warum er denn nicht geholfen habe, zu verhindern, daß die Autos von ganz normalen Kreuzbergern in Flammen aufgegangen sind.

Diese Haltung hatten 1987, als es das erste Mal zu Krawallen in Kreuzberg gekommen war, viele. Man schaute zu, erschreckt oder entsetzt oder verständnisvoll. Man war ja auch sauer auf den CDU-Senat, auf die 750-Jahr-Feier, auf „die da oben“ und die brutale Polizei des Innensenators Kewenig. Und so durften einige Hundert, stellvertretend und von den anderen schadenfroh oder auch nur mit dem schlechten linken Gewissen goutiert, draufhauen. Ähnlich war es im letzten Jahr, als für viele offensichtlich die Polizei -Sondertruppe EbLT auf alles eindrosch, was sich auf der Straße bewegte. Da diskutierte anschließend kaum jemand über Reform oder Revolution. Der Ärger über den kaputten Kiez, über die zerschmissenen Scheiben und die ausgebrannten Autos wurde nicht den unmittelbaren Tätern, sondern den vermeintlichen Verursachern angelastet. Erstmals in diesem Jahr haben verschiedene Gruppen und Initiativen der Kreuzberger Alternativszene, der Linken einschließlich der AL, klar gegen die Randale Stellung bezogen. Selbst Leute, die sich selbst als linksradikal und Anhänger von revolutionärer Politikstrategien bezeichnen, fanden das, was sich in dieser Nacht an Gewalt und Zerstörung abgespielt hat, „konterrevolutionär“. Sogenannte „Nachbarn“ des Lausitzer Platzes kündigten an, im nächsten Jahr selbst einzugreifen und vor allem die vielen Jugendlichen und Kinder, die in der Folge der Ereignisse mitgemacht haben, abhalten zu wollen. Und auch innerhalb der autonomen Gruppen ist man sich nicht einig in der Beurteilung der Aktion (siehe Dokumentationen auf dieser Seite).

Was also ist in diesem Jahr anders, warum die fast einhellige Verurteilung der „sinnlosen Randale“. Ein Grund ist sicher, daß niemand mehr an den spontanen und situativen Ausbruch der Gewalt glaubt. „Das müßt Ihr mir mal erklären, wieso jedes Jahr am 1. Mai, pünktlich um halb sechs Euer Haß so groß wird, daß Ihr Getränke-Hoffmann plündern müßt“, fragte einer polemisch auf dem Kiez-Palaver und wollte weiter wissen, wo „spontan die Mollies alle herkamen“. Hatte man für die unmittelbare Wut und die Emotionen von Leuten, denen es dreckig geht vor Jahresfrist noch Verständnis, so nimmt man heute den Autonomen übel, daß sie die Auseinandersetzung anzetteln und damit die „Gewaltlawine“ lostreten, daß sie die Wut und den Ärger und die aufgestauten Aggressionen vieler Jugendlicher und auch Kinder in ihre politische Strategie und ihr Kalkül einbauen.

Doch daneben tut sich auch ein Generationenkonflikt auf zwischen den Besetzern und Kämpfern der Bewegung 1981, die inzwischen in ihren selbstverwalteten Häusern, Mieterläden und Initiativen arbeiten und zu „Besitzenden“ geworden sind, und dem heutigen autonomen Nachwuchs. „Ich seh doch nicht ein, daß ich mir das, was ich mir 1981 selbstbestimmt genommen habe, heute selbstbestimmt kaputtschlagen lasse“, erklärte auf dem letzten Kiezpalaver eine Bewohnerin eines selbstverwalteten, ehemals besetzten Hauses, denen in der Nacht vor dem 1. Mai die Scheiben eingeschmissen worden waren. Nahezu zehn Jahre reformistischer Kleinarbeit in der Bau- und Wohnungspolitik in Kreuzberg trennen die Ex -Besetzer von den jungen selbsternannten „Revolutionären“. Die Vorwürfe sind gegenseitig: Die, die noch an Reformen glauben, werfen den Militanten vor, daß man nicht mehr erkennen könne, gegen wen sich eigentlich ihre Aktionen richten. Sie seien elitär und praktizierten das „Faustrecht“ und beurteilten die Politik nur danach, ob sie selbst ihnen Vorteile bringe. Sie, die Mieterberater zum Beispiel, setzten sich auch für die ein, die nicht laut schreien, Ausländer beispielsweise. Die hätten am 1. Mai ein friedliches Fest feiern wollen. Der militanten Aktion, der Plünderung des Getränkemarktes in der unmittelbaren Nähe des Festplatzes, in dessen Folge die Polizei Tränengas einsetzte und das Fest sich auflöste, machen sie den Vorwurf, diese Leute zu majorisieren, ihnen ihre Form der politischen Auseinandersetzung aufzuzwingen. Die militanten Autonomen fragen ungeduldig zurück nach dem Sinn der kleinen Schritte: „Von Euch Reformisten möchte ich mal wissen, wie ihr euch eigentlich Veränderung in dieser Gesellschaft vorstellt.“ Sie akzeptieren nicht, daß „die paar Steine“ und ausgebrannten Autos gegen die tägliche Gewalt, gegen die sich ihre Aktion gerichtet habe, aufgerechnet werden sollen. Den Reformisten, die heute als Mieterberater, Stadtplaner und in Beratungsstellen arbeiten, werfen sie vor, sie trügen zur „Sozialhygiene“, zur Vertreibung der armen Leute aus dem Kiez bei. Der „behutsamen Stadterneuerung“, den Modernisierungsprogrammen geben sie die Schuld an den hohen Mieten.

Daß sich ihre Aktion aber „bewußt gegen den rot-grünen Senat“ gerichtet habe, wie es ihnen von Teilen der AL vorgeworfen wurde, weisen die Autonomen kokett von sich „So wichtig seid ihr nicht.“ Tatsächlich sehen sie allerdings in der Hoffnung, die viele in die AL in der Regierungsbeteiligung setzten, eine Gefahr für die Akzeptanz revolutionärer Politik. Die AL ihrerseits fürchtet die Militanz, weil in der öffentlichen Meinung die Krawalle ihr in die Schuhe geschoben werden. Die Verurteilung der Mai -Krawalle durch die AL muß man also auch auf diesem Hintergrund sehen und durchaus Fragezeichen dahinter setzen. Die Autonomen haben recht, wenn sie sagen, daß die AL die Seite der Barrikade gewechselt habe. Denn nicht eine veränderte Haltung zur Frage von Gewalt als politischem Mittel hat sie dazu bewegt, die Randale zu verurteilen. Wenn die Partei jetzt die Gewalt ablehnt, dann auch, weil sie sich gegen die von ihr ausgeübte Staatsgewalt richtet, gegen „ihre“ Polizei. Aber auch gegen ihren Versuch, zu beweisen, daß Reformpolitik in dieser Stadt möglich ist, konkrete Verbesserungen bringt. Immer wieder konnte man in den Diskussionen der letzten Wochen die fast flehentliche Bitte von ALern an die militanten Gruppen hören, man möge dem rot -grünen Senat doch Zeit lassen und damit die Chance geben, zu zeigen, daß er etwas tue gegen die Wohnungsnot, das soziale Elend und die Arbeitslosigkeit. Oder, und das war die andere Variante des Vorwurfs der AL an die autonomen Gruppen, die Randale nütze „objektiv“ nur den Rechten, den „Republikanern“. Die Alternative zu rot-grün sei derzeit eben schwarz-braun.

Der auch in den letzten Wochen mehrfach ausgesprochene Appell an die innerlinke Solidarität fruchtet an die Adresse der Autonomen gerichtet wenig. Für Teile dieser Szene ist tatsächlich die AL zum Feind Nummer eins geworden. Gefährlicher als die Rechten, weil sie in ihren Augen den Leuten den Kopf vernebeln, trügerische Hoffnungen auf die Reformierbarkeit des Systems vermitteln. Von seiten der Reformlinken wird erinnert an die Zersplitterung der Parteien während der Weimarer Republik. Die innerlinke Spaltungsdiskussion gehe völlig vorbei an der gesellschaftlichen Realität, warf ein langjähriger Stadtplaner auf dem Kiezpalaver den Autonomen vor. Und: „Ihr drängt die AL durch Eure Aktionen erst recht in die Regierungs- und Ordnungsrolle.“

Doch die Appelle werden bei denen, die ihre Aktionen aus dem Bauch rechtfertigen, nicht viel ausrichten. Denn wie sagte einer auf dem Kiezpalaver: Selbst wenn in Kreuzberg alles in Ordnung wäre, bleibt immer noch Südamerika, Südafrika, Chile...