: „Bei Krebs gibt es keinen Grenzwert“
Der Nuklearmediziner Gerhard Schneider zu den Krebserkrankungen eines bei der KWU kontaminierten Arbeiters ■ I N T E R V I E W
taz: Bei 21 von 130 Mitarbeitern der KWU, die 1987 infolge eines Störfalls Americium 241 aufgenommen haben, wurde eine Strahlenexposition von 30 bis 260 rem Knochenoberflächendosis ermittelt. Was bedeutete das?
Dr. Schneider: Das bedeutet zunächst eine Gefahr für das blutbildende Knochenmark. Weil weniger weiße und rote Blutkörperchen gebildet werden können, kommt es zu einer Abwehrschwäche. Aber die Knochenoberflächendosis ist nur ein Teil der gesamten Dosis. Allerdings gibt es keine wirklich verläßlichen Methoden, die tatsächliche Höhe einer Strahlenbelastung nach einer Inkorporation mit einem Alphastrahler wie Americium 241 zu ermitteln.
Hat das Bundesgesundheitsamt unlauter gehandelt, weil es sich auf die Angabe der Knochenoberflächendosis beschränkte?
Ja und Nein. Die Knochenoberflächendosis ist nur ein Schein - oder Teilwert. Allerdings schreibt die Strahlenschutzverordnung bei einem Kontaminationsfall mit Americium 241 noch immer nur die Knochenuntersuchung zwingend vor. Die exakte Dosis - und das muß konstatiert werden - läßt sich nicht ermitteln. Als vor einigen Jahren in Hanau von Arbeitern Plutonium verschluckt wurde, hat man Stuhlproben untersucht. Auch dabei findet man nur einen Bruchteil von dem, was wirklich an Dosis inkorporiert wurde, nämlich das, was wieder ausgeschieden wurde.
Gibt es da keinen Hochrechnungsfaktor?
Das ist nicht zulässig, weil das den individuellen Bedingungen keine Rechnung tragen würde. Die Menschen inhalieren ja zunächst den Alphastrahler, husten ihn mehr oder weniger wieder heraus, verschlucken ein bißchen davon und das wandert dann durch den ganzen Darmtrakt, bis ein letzter Rest wieder ausgeschieden wird. Und diesen Rest jetzt hochrechnen zu wollen wäre in der Tat unlauter.
Einer der bei dem KWU-Störfall betroffenen Arbeiter ist inzwischen an Lungenkrebs erkrankt. Kann überhaupt der Nachweis erbracht werden, daß diese Krebserkrankung auf die Kontaminierung zurückzuführen ist?
Ich vertrete die Ansicht, daß dieser Zusammenhang sehr wahrscheinlich ist. Die Berufsgenossenschaften haben diesen Zusammenhang allerdings bislang geleugnet - und sich dabei auf die wenig verläßlichen Meßwerte und Daten berufen. Sollte ein Betroffener noch dazu rauchen, wird es heißen, er habe sein Lungenkarzinom durch das Zigarettenrauchen bekommen. Im Zweifelsfall müßte man sich allerdings auf die Seite der Beschäftigten stellen und eine Entschädigungspflicht einfordern. Da wird man sehen müssen, wie in diesem konkreten Fall der Prozeß ausgeht. Bislang jedenfalls wurden solche Ansprüche in der Regel abgelehnt. Die Beschränkung auf die Angabe der Knochenoberflächendosis wird ein Hebel für die Beklagten sein, diesen Anspruch abzubügeln.
Würden Sie sich für einen niedrigeren Grenzwert bei der Strahlenbelastung von Mitarbeitern atomarer Anlagen einsetzen?
Es darf überhaupt keinen Grenzwert geben, weil Alphastrahler in der Lage sind, eine hohe Strahlungsenergie auf einem ganz kurzen Weg innerhalb der Lunge abzugeben. Es gibt viele Indizien, die dafür sprechen, daß nur wenige dieser Partikel ausreichen, um eine Krebserkrankung hervorzurufen. Da gibt es keinen Grenzwert.
Das Gespräch führte Klaus-Peter Klingelschmitt
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