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Revolutionsstadt Belleville

■ Die Pariser Kommune, die erste Arbeiterregierung Europas, fiel und stand in Belleville. Heute wird das Image des pariser Vororts Belleville durch Immobilienhändler auf Kosten der Armen zurechtgerückt.

Tarik Kawtari REVOLUTIONSSTADT BELLEVILLE

Die Pariser Kommune, die erste Arbeiterregierung Europas, fiel und stand in Belleville. Heute wird das Image des Pariser Vororts Belleville durch Immobilienhändler auf Kosten der Armen zurechtgerückt.

Ich komme aus Belleville. Das erschreckt, denn so heißt das verfluchte Viertel von Paris! Ja, es ist die Hölle. Schließlich wohnt dort das Volks, das immer wieder aufsteht. Eine ständige Bedrohung, ein Haufen von Allesfressern. Trunkenbolde und Gammler! Ja, so denkt man über meine Stadt Belleville.“ Michel Bordet, ein seinerzeit armseliger Schauspieler an einem kleinen Pariser Theater, beschreibt 1872 die Angst vor Belleville, dem Arbeiterviertel im Osten der Hauptstadt. Noch hat sich das bürgerliche Paris nicht von dem Schrecken erholt, den ihr die Herrschaft der Kommune im Jahr zuvor eingeflößt hat. Denn die Kommune, die erste Arbeiterregierung Europas, stand und fiel in Belleville. Für die Kommune gaben die Bürger Bellevilles ihr Leben. Bis zum heutigen Tage trägt Belleville dieses Image. Man nennt es das gefahrenvollste Viertel von Paris. * * *

Das ehemalige alte Dorf Belleville wurde im Laufe des 19.Jahrhunderts zur Hauptstadt der Sans-Culotten oder vielmehr ihrer Kinder, die man aus dem Pariser Zentrum verjagt hatte. „Wo ist das Volk von 1789 geblieben, jenes, das den ersten 14.Juli bestritten hat?“ fragte sich 1937 der erste Lokalhistoriker Bellevilles, Jules Romains. Seine Antwort lautet: „An der Bastille ist diese Volkschaft links abgebogen, entlang der Rue de la Roquette, und hat dann begonnen, die Festwände von Belleville zu erklimmen. Weil man im Bistro oftmals haltmachte, dauerte der Ortswechsel ein ganzes Jahrhundert“, bemerkt Jules Romains.

Wer immer in Paris während des letzten Jahrhunderts regierte, von Napoleon bis zur dritten Republik, ein jeder Machtinhaber ließ das Pariser Zentrum für Glanz und Gloria sanieren - Arbeiter und Handwerker mußten sich immer neue Wohnbezirke erschließen, unter ihnen Belleville. Flach erstreckt sich das Land um die französische Hauptstadt - mit einer Ausnahme im Osten: Der „Berg“ von Belleville war schwerer zu besiedeln, aber er bot auch Schutz gegen Fremde. Dorthin zogen nur die Ärmsten. Ihren Schutz und den der Felsen suchte später die Pariser Kommune.

Heute liegen die alten Geschichten, die Revolten, in ferner Erinnerung. Belleville ist besiegt, aber noch nicht untertan. Immer noch beherrscht ein anderer Geist den Osten von Paris. Immer noch gibt es Gründe, auf Belleville - und nicht auf Paris - stolz zu sein. Von Belleville blickt man gelassen auf die Stadt und ihre Neureichen, Modekünstler und sonstigen Privilegierten herab. * * *

Im Gegensatz zu den meisten Stadtteilen des heutigen Paris verträgt Belleville Adjektive. Die zahlreichen aufeinanderfolgenden Immigrationswellen haben Belleville immer wieder neues Leben geschenkt. Heute stehen Araber, meist alte Männer, in großen Menschenansammlungen ohne Ende auf den Straßen und Plätzen von Belleville. Man redet über den Regen und das schöne Wetter im Heimatland, über den Karottenpreis und die Rushdie-Affäre oder über die letzte Ausweisung in der Rue de Tlemcen. Doch Belleville ist mehr, ist alles. Armenier, Polen, arabische Juden, Algerier, Marokkaner, Türken, Vietnamesen, Chinesen: Sie alle haben in diesem Stadtteil irgendwo Platz gefunden. Vielleicht ist Belleville die eigentliche historische Seele von Paris zumindest ist Belleville heute das erste kosmopolitische Viertel der Stadt. In Belleville gibt es viele Geschichten zu erzählen. * * *

Jeden Sonntag findet auf dem Boulevard Belleville in der Nähe der Metro-Station Couronnes ein Automarkt statt. Morad hat es von Freunden erfahren. Er sucht ein nicht zu teures Auto, um im Viertel Lieferungen auszufahren. Vor zwei Jahren hat Morad, Sohn algerischer Eltern, seine Geburtsstadt Lyon verlassen. Jetzt fühlt er sich wohl im täglichen Getriebe, zwischen Straßenhändlern und Autoabgasen. Wie viele in Belleville schlägt er sich ohne feste Arbeit durchs Leben. An diesem Sonntag findet er nicht, was er sucht, doch sein „Busineß„-Geist ist dadurch nicht geschwächt.

Gegen Nachmittag löst sich der Automarkt langsam auf. Einige Händler und Käufer ziehen in die Richtung, aus der bald die Stimme eines Muezzin ertönt - es ist Gebetsstunde. Seit einiger Zeit wird die Omar-Moschee polizeilich gut bewacht. Khomeini hat es so gewollt. Mülltonnen werden aufgestellt, um die kleine Straße vor der Moschee zu sperren. Nun können die Gläubigen in Richtung Mekka niederknien. Bald ertönen Autohupen, Passanten staunen und jemand ruft: „Schlagt sie!“ Ein junger Araber schleicht um die Ecke, er will nicht auffallen. Doch niemand stört das Gebet. Später geht man weiter, um fürs Abendessen einzukaufen. Die Rue du Faubourg du Temple, diese berühmte, altumkämpfte Straße, die vom Platz der Republik auf die Hänge Bellevilles führt, sie wird heute von den billigsten Schlachterläden der Stadt gesäumt. Es wird meist „Halal„ -Fleisch verkauft, das nach arabischem Ritual zubereitet ist. Um es sowohl den arabischen als auch den französischen Kunden recht zu machen, heißt es auf den Preisschildern: „Französisches Lamm, 100 Prozent Halal.“

Arabische Fleischereien, jüdische Textilläden und asiatische Restaurants gesellen sich auf der Rue du Faubourg du Temple wie selbstverständlich aneinander. Die Türken, die später zugezogen sind, haben in der Mitte des Faubourgs einige Geschäfte gefunden. Indische Kramläden gibt es auch. Und die französischen Geschäfte, die übriggeblieben sind, sind meist Apotheken, Drogerien und Reinigungen. * * *

Nazim ist politischer Flüchtling aus der Türkei. Er arbeitet in einem kleinen Restaurant, das für seine Pizzen im Viertel berühmt geworden ist. Sein Chef, dem der neugewonnene Reichtum auf den Magen geschlagen ist, kam erst als Händler türkischer Waren, die er aus der Bundesrepublik importierte, nach Belleville. Nazim ist sein einziger Angestellter, der nicht zur Familie gehört. Unbezahlte Überstunden sind hier selbstverständlich und über Lohn wird nicht verhandelt. Nazim wohnt mit seiner Frau und zwei Kindern in einem Auffanglager für Flüchtlinge. Mit dem bißchen angesparten Geld sucht er seit einem Jahr verzweifelt eine Wohnung ohne Erfolg. Immerhin hat ihm sein Chef seit Jahresbeginn eine kleine Beförderung zugestanden: Nazim arbeitet nun im neueröffneten Restaurant in der Rue Sainte-Marthe. Dort aber ist die Konkurrenz härter und das Restaurant meist leer. Nebenan verkauft Robert, ein baumlanger Kerl, zu sehr niedrigen Preisen französische Fertiggerichte. In der Rue Saint-Marthe, eine der letzten Straßen von Paris, in denen noch das Surren der Nadeln aus den Schneiderwerkstätten zu vernehmen ist, kaufen die Türken lieber burgundisches Rind bei Robert als türkisches Hack bei Nazim. * * *

Das Leben in Paris ist zu einem immer teureren Privileg geworden. Schon im 19.Jahrhundert setzte man die Armen vor die Tore der Hauptstadt. Später wurden dann die Vorstädte eingemeindet, Belleville im Jahr 1860. Heute nun werden die Arbeiterschichten aus Belleville und den anderen Randbezirken der Stadt in die neuen Trabantenvorstädte außerhalb von Paris verdrängt. So ließ Bürgermeister Chirac unlängst die neue Betoncity „4000“ im Norden der Stadtgrenze aufkaufen, um dorthin die Bürger von Belleville umzusiedeln. Unaufhaltsam schreitet die Sanierung in Belleville voran.

Im Herst 1986 starben 19 Erwachsene und acht Kinder, allesamt Immigranten, als kriminelle Brandstifter in einigen alten Häusern von Belleville Feuer legten. Bis zum heutigen Tag gibt es solche Zwischenfälle. Wer versteckt sich hinter diesen nicht aufhörenden Verbrechen? Rassisten oder Immobilienspekulanten? In Belleville wird viel über die Brandstiftungen geredet, und man ist überzeugt, daß es sich hierbei nicht um Unfälle handelt. „Frankreich, das ist doch nicht Südafrika. Man macht uns glauben, wir befänden uns im Land der Menschenrechte. Soll man uns doch sagen, wenn man uns nicht mehr dulden will.“ So schimpft Herr Kimbele, der aus Senegal nach Belleville gekommen ist. Seine Tochter fügt hinzu: „Wir haben Angst, daß die Brandstifter eines Tages auch in unser Haus kommen.“

Viele der alten Araber, denen man auf der Straße von Belleville begegnet, wohnen heute nicht mehr in Belleville. Doch weil sie in der Vorstadt keine Wurzeln geschlagen haben, wohl aber dort, wo sie seit der Immigration lebten, kommen sie täglich zurück nach Belleville und treffen ihre Freunde immer noch am selben Platz wie vor zwanzig Jahren. * * *

Herr Saadine lebte zuvor in einem möblierten Hotel. Zehn Jahre wohnte er dort und kannte jedermann in der Nachbarschaft. Er hatte Arbeit im Textilhandwerk und träumte von Zeit zu Zeit vom anderen Ufer des Mittelmeeres. Wie viele andere „Junggesellen“ seiner Zeit benutzte Herr Saadine das kleine Hotelzimmer nur zum Schlafen für die Nacht. Das kostete 200 bis 300 Mark Miete im Monat und war damit nicht schlecht bezahlt. „Besonders schön war das Leben nicht, aber wir kamen miteinander aus“, erzählt Herr Saadine. „Wir waren einige Araber unter uns, wir sahen uns in der Küche und spielten Karten. Damals bin ich ins Hotel gegangen, weil das nicht zu teuer war und weil man die Araber in Paris ja nicht allzu gerne sah. Da gab es immer einen Grund, warum man mich nicht zur Miete nahm.“

Doch im Hotel gibt es kein Mietrecht. Im Sommer 1985 erhielt Herr Saadine die Nachricht, daß sein Hotel aufgrund der schlechten Bausubstanz zum Abriß freigegeben wurde. „Viele Leute waren in den Ferien, und dann gab es kein Wasser und keinen Strom mehr. Wir haben das Rathaus besetzt, wir sind zu den Vereien gegangen und zum Anwalt. Der hat uns gesagt, daß niemand das Recht hätte, uns rauszuschmeißen, ohne uns neue Wohnungen zu verschaffen. Doch dann kam die Polizei, die Fenster wurden zugemauert, und uns fehlte das Dach über dem Kopf. Eine Sozialarbeiterin bot uns Unterkunft in einer Clochardherberge an, non merci. Wir haben dann weiterdemonstriert, die zuständigen Ämter besetzt und so weiter, aber nach ein paar Wochen waren wir erschöpft.“ Seitdem ist Herr Saadine aus Belleville obdachlos. * * *

Und Herr Saadine ist kein isolierter Fall. Viele Bürger von Belleville, die seit zwanzig, dreißig Jahren im Viertel leben, haben einen Ausweisungsbescheid aus ihrer Wohnung in der Tasche, ohne daß sie jemals die Chance hätten, erneut in Belleville unterzukommen. Einige haben sich in Mietervereinen organisiert, manchmal mit Erfolg. Doch die meisten sind zu alt, zu müde, und reihen sich lieber in den Schlangen der Sozialämter ein.

Ein unschöner Fleck ist die Bevölkerung von Belleville im „neuen“, sauber geschminkten Gesicht, das Bürgermeister Chirac seiner Stadt geben möchte. Wille und Ziel der Stadtpolitik sind eindeutig: Möge der Osten von Paris endlich von diesen Mischlingen, Armen und sonstigen „loosers“ befreit werden! Immer das gleiche Szenario: Ausweisung, Abriß, Neubau, dann stehen die mittleren Angestellten mit „genügendem“ Auskommen zum Einzug bereit. Wie giftige Pilze sprießen die neuen Wohntürme auf den Hängen von Belleville. Schon umzingeln sie den Stadtteil. Auf den Straßen von Belleville sieht man die neuen Bürger nur selten. * * *

In der dreißigtägigen Ramadanzeit gleicht der Bouldevard Belleville einem einzigen, ständigen Markt, wie es ihn in Paris nicht noch einmal gibt. Auf drei Holzplatten verkaufen Händler Pfefferminze, Datteln, Gewürze und alles, was für die besonderen Speisen des Ramadan von Nutzen ist. Die Polizisten wissen dann nicht mehr, wo sie ihre Köpfe hinstecken sollen, denn die Verkaufserlaubnis hat hier niemand. Mitten auf dem verbotenen Markt stehen zwei Polizisten während des ganzen Jahres vor einer Synagoge. Doch Belleville ist kein Schlachtfeld des Nahostkrieges. Jüdische und arabische Läden streiten in Belleville lediglich um Kundschaft. Während des Ramadan sieht man nicht selten jüdische Familien auf dem arabischen Markt.

Seit zwei, drei Jahren kommen auch Asiaten nach Belleville. Sie kaufen langsam und geduldig auf, was zu haben ist. Und plötzlich gibt es Drei-Etagen-Restaurants, Supermärkte, Spielhallen, Friseursalons mit chinesischen Schriftzeichen an der Wand. Ein Flair von Chinatown hat sich in das Stadtbild von Belleville gemischt. Seit drei Monaten ist das neue chinesische Restaurant in der Rue du Chalet bei den Pariser Asiaten in Mode gekommen. Am Sonntag aber ist das Restaurant für Hochzeiten geschlossen. Dann ringt sich eine Autoschlange mit vielen weißen Schleifen um das Gebäude, und die chinesische Familie bleibt unter sich. Einige alte Araber beobachten mißfällig das Geschehen. Chinesen und Vietnamesen genießen offensichtlich größeren Wohlstand als sie. Ihre Arbeitsorganisation ist denen der meisten Araber überlegen. Für Nostalgie bleibt keine Zeit.

Belleville hat die unterschiedlichsten Menschen zusammengebracht. Wie lange noch? Die Immobilienhändler warten - und verpassen keine Gelegenheit. Sie haben jedenfalls keine Angst vor Belleville und revolutionieren heute den Vorort von Grund auf.

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