: 3.000 in Prag
■ Kurze Geschichte des musikalischen Samisdat in der Tschechoslowakei
Die Geschichte des musikalischen Samisdat in der Tschechoslowakei beginnt schon Anfang der siebziger Jahre. Damals haben im Laufe der „Normalisierung“ viele Rockmusiker und Liedermacher ihre Erlaubnis verloren, öffentlich zu spielen. Alle MusikerInnen mußten sich damals Gesinnungsüberprüfungen unterwerfen, wo nicht ihre künstlerischen Qualitäten, sondern ihre Ergebenheit für die offizielle Kulturpolitik kontrolliert wurde.
Jeder hatte die Wahl: entweder sich zu korrumpieren oder die Auftrittserlaubnis zu verlieren. Einige Musiker oder Sänger, vor allem aus der Unterhaltungsmusik, gingen den ersten Weg. Jene aber, die sich nicht bestechen ließen, durften nicht mehr öffentlich auftreten. Allein in Prag waren das ungefähr 3.000 Musiker. Einige der Betroffenen hörten ganz auf, andere stiegen in Begleitgruppen von Popstars um. Die Hartnäckigsten aber spielten weiter - ohne Erlaubnis. Damit riskierten sie Verfolgungen durch die Geheimpolizei und andere Repressionen. Konzerte von diesen Gruppen oder Liedermachern wurden in verschiedene private Landhäuser, Landkneipen usw. verlegt. Auch wenn für diese Aktionen nicht öffentlich geworben werden durfte, es kamen immer viele Leute. Selbstverständlich interessierte sich auch die Stasi für diese Aktivitäten.
Oft wurden diese Konzerte durch polizeiliche Razzien beendet - es folgten Verhaftungen, Untersuchungen, Studenten wurden von den Schulen oder Universitäten geschmissen.
Diese Verfolgungen hatten ihren Höhepunkt im Frühling 1976, als 29 Musiker, Künstler und Freunde aus dem Kreis um die Gruppe PPU (Plastic People) verhaftet wurden. Vier von diesen Verhafteten wurden verurteilt (Ivan Jirous zu 18 Monaten Knast, Pavel Zejcek zu zwölf Monaten, Vratislav Brabenec und Svatophil Karasek zu acht Monaten). Obwohl sie wegen „Organisierung von Störungen der allgemeinen Ordnung“ und angeblicher Obszönität verurteilt worden waren, handelte es sich um einen politischen Prozeß: Vor Gericht ging es um das Wesen der Kunst, um das Recht des Künstlers, sich frei auszudrücken. Dieser Prozeß provozierte eine große Sympathiewelle und Proteste von Künstlern und Intellektuellen aus der Tschechoslowakei und der ganzen Welt und war auch einer der Impulse, der zur Entstehung der Charta 77 führte.
Die Musiker, die wegen dieser Repressionen in den Untergrund getrieben wurden, waren in den neuen Bedingungen bald heimisch. 1977 fand in Vaclav Havels Landhaus ein Untergrundfestival statt, wo neben PPU auch andere verbotene Gruppen und Liedermacher spielten. Auf diesem Festival entstanden auch die ersten Aufnahmen des tschechischen musikalischen Samisdat. Die Tonbandaufnahmen wurden meist über die Post verteilt, aber das war nicht das Entscheidende. Vor allem war es wichtig, daß auf diesen Bändern etwas anderes zu hören war als das offizielle Brainwashing. Die Tonbänder konnten auch Leute hören, die sonst keine Möglichkeit hatten, die geheimgehaltenen Konzerte zu besuchen.
Die Vervielfältigung war kompliziert und gefährlich; einer der Distributoren, Petr Cibulka, wurde zu zwei Jahren Knast verurteilt. Es ist eine Ironie des Schicksals, daß er wieder wegen dieser Aktivitäten in Untersuchungshaft sitzt. Jetzt droht ihm aber eine höhere Strafe - bis zu zehn Jahren.
Dies ist kein Einzelfall. Man denke nur an Vaclav Havel oder an den Kunsthistoriker Ivan Jirous, der wegen seiner unabhängigen kulturellen Aktivitäten bereits acht Jahre Knast hinter sich hat. Wegen einer Unterschriftenaktion gegen den seltsamen und unaufgeklärten Mord an Pavel Wonka im tschechischen Knast ist er kürzlich erneut zu 16 Monaten Haft verurteilt worden. Für Jirous und andere fand vor einem Monat ein Solidaritätskonzert in New York statt, wo auch The Fugs und Allen Ginsberg aufgetreten sind.
Leichter wurde es mit Vervielfältigungen als sich die Kassettenrecorder verbreiteten. Ende der 70er Jahre fingen neue Gruppen an, ihre Konzerte auf Kassetten aufzunehmen und diese zu verbreiten. Die Klangqualität wurde besser, die Musiker wagten, auch Studioaufnahmen zu machen und lernten es, alle zugänglichen Aufnahmemöglichkeiten zu benutzen. Das hört man zum Beispiel auf den letzten Kassetten der MCH Band, einer der bedeutendsten tschechischen unabhängigen Rockgruppen. Auch musikalisch ist das Spektrum breit, man kann alles finden: Punk, Elektronik, Pop, minimalistische und andere Experimente.
Gleichzeitig wurden von einigen Gruppen auch Sampler produziert, wie beispielsweise Die tschechische alternative Rockmusik der 70er Jahre. Es entstanden regelrechte Firmen, die für die Vervielfältigung und Verbreitung der Kassetten sorgten. Keine richtige Firmen natürlich, meistens nur eine Person, die diese sehr verdienstvolle, aber auch gefährliche Arbeit macht. Einige dieser „Firmen“ haben sehr umfangreiche Angebote.
Im Herbst '88 nahm die Stasi den schon erwähnten Petr Cibulka fest und beschlagnahmte sein Archiv, in dem sich seltene Aufnahmen tschechischer unabhängiger Musik befanden, nicht nur Rock, sondern auch zeitgenössische tschechische Klassik. Petr Cibulka wurde nicht offiziell für seine Tätigkeit im kulturellen Bereich verhaftet. Die Beschuldigungen lauten auf unerlaubtes Geschäftemachen und Steuerbetrug. Eine in der CSSR beliebte Methode der Justiz. Vor ein paar Jahren wurden drei Leute aus der Führung der Jazz-Sektion aufgrund fiktiver und falscher Beschuldigungen und Beweise nicht wegen ihrer kulturellen (und politischen) Tätigkeit, sondern wegen Steuerbetrug zu einem Jahr Knast verurteilt.
Aber auch jetzt können weder Repression noch Gefahr die Weiterverbreitung dieser Kassetten verhindern. Es entstehen neue Firmen, viele Leute nehmen selbst die Konzerte mit einem Walkmen auf. In letzter Zeit zirkulieren sogar Videoaufnahmen von Konzerten; die Gruppen fangen an, ihre eigenen Videoclips zu produzieren. Auch ein Video-Journal kursiert bereits.
J. Egerer
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