Raketenstreit: SPD-Kritik an Kohl

Kanzler schreibt Brief an US-Präsident Bush / Regierungssprecher Klein: Abstimmung mit den USA ist „im Fluß“ / Ehmke sieht „Dilettantismus“ / Auswärtiges Amt: Kein Kompromiß in Sicht  ■  Aus Bonn Gerd Nowakowski

„Unnachahmlichen Dilettantismus“ und Unfähigkeit zur Wahrung deutscher Interessen im Raketenstreit mit den USA hat der am Wochenende aus Amerika zurückgekehrte SPD-Abrüstungsexperte Horst Ehmke der Bundesregierung bescheinigt. Regierungsprecher Klein hingegen wies den SPD-Vorwurf zurück, die Bundesregierung schwenke nun auf die amerikanische Position ein, nach der Verhandlungen über atomare Kurzstreckenraketen erst dann stattfinden sollen, wenn bei Abrüstungsverhandlungen im konventionellen Bereich Ergebnisse erzielt worden sind. Der Abstimmungsvorgang mit den USA sei „im Fluß“, sagte Klein und bestätigte, daß Bundeskanzler Kohl US-Präsident Bush am gestrigen Montag einen Brief übersandt habe. Zum Inhalt sagte Klein nichts, fügte aber hinzu, zu einem Abstimmungsvorgang gehöre ein „aufeinander ein und aufeinander zu gehen“. Umstritten blieb gestern, ob Voraussetzung für Verhandlungen ein Erfolg der Wiener Verhandlungen oder gar erste Umsetzungen sind. Vor der Bundespressekonferenz räumte Klein ein, daß die Formel „baldige Verhandlungen“ in „Verhandlungen nach ersten Implementierungsergebnissen“ umgeändert wurde; dies bedeute Vollzug.

Die Bundesregierung sei dabei, ihre Forderungen nach einer baldigen Aufnahme von Verhandlungen „kleinlaut aufzugeben“ und auf unbestimmte Zeit zu verschieben, beharrt dagegen Ehmke. Die Sozialdemokraten rechnen mit einer Verzögerung von vier bis sechs Jahren. Die SPD fordert hingegen, die Nato solle auf ihrem Gipfel in Brüssel ihre prinzipielle Bereitschaft zu Verhandlungen über die Kurzstreckenraketen erklären. Diese sollten dann nicht zeitlich nachgeordnet den Wiener Verhandlungen, sondern parallel im nächsten Frühjahr beginnen.

Brüssel (dpa) - Jürgen Chrobog, Sprecher des Auswärtigen Amten, widersprach Klein indirekt. In der Frage des Raketenstreits sei kein Kompromiß in Sicht, meinte er. Wenn man die jüngsten amerikanischen Forderungen mit der Haltung von Genscher vergleiche, sei dies klar, erklärte er gestern in Brüssel.

Boston (ap) - US-Präsident Präsident George Bush hatte am Sonntag abend eine „wachsende Selbstgefälligkeit des Westens“ beklagt und erklärt, die USA und ihre Verbündeten dürften in ihrer Wachsamkeit gegenüber der Sowjetunion nicht nachlassen. Die Nato bezeichnete Bush als Mittelpunkt der amerikanischen Außenpolitik. Ohne direkt auf den Streit um die Modernisierung der atomaren Kurzstreckenraketen in Europa einzugehen, sagte Bush, Atomwaffen seien ein lebenswichtiger Bestandteil der Verteidigung Europas. Die in Europa stationierten US-Kurzstreckenwaffen zeigten das vitale Interesse der Vereinigten Staaten an Westeuropa. Ein Angreifer dürfe niemals mit einer Erprobung der Stärke lediglich der konventionellen Streitkräfte spielen, sagte Bush.