: Erster Warnstreik im Krankenhaus
■ Gegen Pflegenotstand und Unterbezahlung traten Krankenschwestern und Pfleger zum ersten Mal in ihrem Leben für vier Stunden in Streik / St.-Jürgen-Chirurgie dicht / Demonstration in Oldenburg
„Wenn mir 1952 jemand gesagt hätte, daß ich mal bei einem Streik mitmachen würde, hätte ich gedacht, der wäre verrückt.“ Nicht nur für diese Krankenschwester war gestern morgen der vierstündige Warnstreik in der St.-Jürgen-Klinik der erste Arbeitskampf ihres Lebens. Nicht ein einziges Mal während ihrer 37 Dienstjahre hatte die Gewerkschaft ÖTV die Tarifforderungen im Pflegebereich mit Streik unterstützt. Doch gestern war es soweit: Ab sechs Uhr blieben die Türen der Chirurgie dicht, nur in akuten Notfällen kümmerten sich Schwestern und Pfleger um die PatientInnen.
„Pflege im Akkord ist Mord“ machte ein 20 Meter langes Transparent an der Klinik-Fassade schon von weitem auf die Gründe des Warnstreiks aufmerksam. Doch nicht nur eine katastrophale Belastung, sondern gleichzeitig auch katastrophal schlechte Bezahlung beklagt das Pflegepersonal. „Obwohl ich weiß, daß Frauenarbeit unbezahlbar ist, bin ich dafür, es zu versuchen“, hatte eine Krankenschwester auf ihr Plakat geschrieben.
2.098 Mark netto verdient die Schwester im 38. Dienstjahr, alle Nacht,-Feiertags-und Überstunden-Zuschläge bereits eingerechnet. Eine zehnstündige Nachtwache zum Beispiel wird mit 15 Mark extra „belohnt“. Wenn ihr Sohn bei Kellogs als Aushilfs
kraft eine Nachtschicht jobbt, verdient er das zehnfache, 150 Mark, zusätzlich. „Da ist es doch kein Wunder, daß immer weniger junge Männer und Frauen einen Pflegeberuf ergreifen wollen“, meint die erfahrene Schwester.
Einige hundert PflegerInnen sammelten sich gestern morgen vor dem Portal der St.-Jürgen-Chirurgie. Viele ihrer PatientInnen, die an diesem Morgen nicht gewaschen, frisch gebettet und
verbunden wurden, zeigten Verständnis für den Streik. Nur ein einziger Mann bestand auf sofortiger Pflege. Die leitende Stationsschwester nahm ihn beim Wort und hielt eine persönliche Sitzwache nach dem Motto: „Warnstreik verkehrt“.
Unterdessen holte sich auch der neue St.-Jürgen -Verwaltungsdirektor Wilfried Bolles eine Tasse Kaffee am Streik-Thresen vor der Tür, wollte das
aber nicht als Unterstützung gewertet wissen. „Ich bin ja dazu verdonnert, Arbeitgeber zu sein“, meinte er. Gehaltsabzug haben die Warnstreikenden von ihrem Chef jedoch nicht zu fürchten. „Ich lasse keine Anwesenheitskontrollen durchführen“, versicherte Bolles gegenüber der taz. Kurz darauf kam er mit einem Passierschein der ÖTV in der Hand unbehelligt durch die Reihe der Streikposten hindurch ins Kli
nik-Gebäude.
Auch der Pharmakologe und ehemalige Senatsdirektor, Prof. Schönhöfer, durfte mit Gewerkschafts-Genehmigung passieren zum Ärger der Streikposten: „Der hat hier überhaupt nichts zu suchen, aber bei Parteigenossen macht auch die ÖTV 'ne Ausnahme“, beschwerte sich einer von ihnen. Eigentlich sollten nämlich nur Notärzte und das für akute Fälle dringend erforderliche Pflegepersonal ins Gebäude gelassen werden.
In Oldenburg wurde gestern zwar noch nicht gestreikt, aber auch dort zeigte die ÖTV, daß sie sich die hinhaltende Verhandlungstaktik der öffentlichen Arbeitgeber nicht länger bieten lassen will. Gestern nachmittag demonstrierten etwa 1.500 PflegerInnen gegen „schlechte Arbeitsbedingungen, geringes Einkommen und Pflegenotstand“. Vom Krankenhaus Kreyenbrück zog der Zug eineinhalb Stunden bis zum Oldenburger Marktplatz zur Abschlußkundgebung. Bei den angebotenen Arbeitsbedingungen, so der Bezirksvorsitzende der ÖTV Weser Ems, Holger Wohlleben, sei der Bedarf an Pflegepersonal künftig nicht mehr zu decken.
Die festgefahrenen Tarifverhandlungen wurden in Bonn gestern erstmal auf den 31. Mai vertagt.
Ase
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