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Wenn sie nicht gestorben ...

■ Nie gehörte Stadtmusik oder die Spurensuche nach Hausbesetzern vergangener Tage

Mal wieder das absolute Gähnen über der Stadt, Kalle wich einem Haufen Scheiße aus und betrachtete sich in der Schaufensterscheibe. Seine Haare standen wirklich superstronge und rot in Richtung Regenwolke. „Hey Katze“ rief er über die Straßenseite, „was schleichst du so?“ „Echt Alter, nix mehr mit Füße unter die Zentralheizung, rausgesetzt ham se mich, soll mir mal die Krallen schneiden.“ An der Frittenecke stießen sie mit Assel zusammen, der sich 'ne Bockwurst zwischen die Zähne schob. „Los Leute, auf zu Else, soll was im Busch sein heute, muß sich was ändern, ist ja ein Hundeleben so.“ Else hielt ihr blitzendes Blasinstrument an die spitzen Lippen und posaunte: „Ihr versteht euch doch auf Nachtmusik, laßt uns doch nach Bremen gehen.“ Bremen aber war weit und viele schöne Häuser standen am Wegesrand und weil sie bis heute noch nicht angekommen sind, läßt sich erahnen was geschah.

Auch die Gebrüder Grimm (deren es fünf und eine Schwester gab), die sich Anfang des 19. Jahrhunderts ans Aufschreiben

dieses und anderer Märchen machten, kamen nie bis Bremen. Zeitlebens waren Geldsorgen und soziale Benachteiligung an ihrer Seite. Sie wurden an der Universität mit „er“ statt „Sie“ angeredet und immer wieder unter Hinweis auf ihren niedrigen Stand abgelehnt. Hier liegt ihre Verbindung zu den Märchen: zu den Prosaerzählungen von phantastisch wunderbaren Begebenheiten, die ihre Lösung in der einfachen Weltordnung finden: Das Gute belohnt, das Böse bestraft. So vertreiben in der Version der Grimm-Brüder die Haustiere die Räuber, während in älteren Überlieferungen Fuchs, Ziege, Bock, Hirsch, Huhn und Gans die Bösen: Leun, Leopard, Wolf und Bär in die Flucht schlagen.

Und wer es seit 1953, als sie hier heimisch wurden, immer noch nicht geschafft hat, sich das mutige Gesindel an der Westseite des Rathauses einmal anzuschauen, hat immer noch Zeit dazu, denn diese vier haben es bis Bremen geschafft auch wenn sie uns ihre Musik immer noch vorenthalten. Silvia Kleinschmid

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