piwik no script img

Meinungsfreudige SowjetbürgerInnen

Die 'Literaturnaja Gaseta‘ befragte 200.000 LeserInnen über ihr Befinden in der Gesellschaft  ■  Von Klaus-Helge Donath

Zum ersten Mal in der Geschichte des Sowjetunion wandte sich Anfang des Jahres eine Zeitung mit der Bitte an ihre Leser, einen umfangreichen Fragebogen zu Problemen ihres alltäglichen Lebens, ihren Hoffnungen, Ängsten und Einschätzungen der wirtschaftlichen und politischen Veränderungen im Land auszufüllen. Der Bogen mit über 30 Themen und etwa 400 Antwortmöglichkeiten war von dem kürzlich gegründeten „Allunionszentrum zur Erforschung der öffentlichen Meinung“ entwickelt worden, das die bekannte Reformerin und Soziologin Tatjana Saslawskaja leitet. Die größte Wochenzeitung der SU, die 'Literaturnaja Gaseta‘, veröffentlichte die Ergebnisse am 29. März. Die Leserschaft der 'Literaturnaja Gaseta‘ - sie erscheint in einer Auflage von sechs Millionen - rekrutiert sich vornehmlich aus höher qualifizierten Schichten der sowjetischen Gesellschaft, Facharbeitern, Ingenieuren, Akademikern und Künstlern.

Die Methoden der empirischen Sozialforschung und Demoskopie sind von den sowjetischen Gesellschaftswissenschaftlern bisher wenig entwickelt und angewandt worden. Allgemein galt: In einer Gesellschaft, die auf umfassender Planung aller Lebenszusammenhänge beruhe, brauche man derartige Methoden nicht. Man hielt sie für „bürgerliche Ideologie“.

Heute gestehen sowjetische Sozialwissenschaftler sogar mangelnde Kenntnis über die eigene Gesellschaft ein. Die Notwendigkeit einer genauen Analyse, so 'Literaturnaja Gaseta‘, zeige sich schon angesichts der zunehmend scharfen sozialen Gruppenkonflikte und der Nationalitätenproblematik. Ob die Methoden der Demoskopie früher brauchbare Daten geliefert hätten, bezweifelt dagegen Prof. Igor Kon von der Akademie der Wissenschaften: „Wer hätte denn damals richtige Angaben gemacht?“

Um so erstaunlicher die „Explosion der Leseraktivität“. Innerhalb von zwei Wochen gingen im Februar 200.000 Bögen in der Redaktion ein. Ganze Familien oder Arbeitskollektive hatten geantwortet. Die Hälfte der Leser gab unaufgefordert sogar Name und Adresse an. Wie nicht anders zu erwarten, kam der größte Rücklauf aus dem europäischen Zentrum der SU mit 26% der Bögen und 19% aus der Ukraine, ganz vorne stehen die Städte Moskau und Leningrad. Mittelasien und Kasachstan sind mit 4% am schwächsten vertreten. Rückmeldungen gingen aber aus allen Regionen ein.

Die Hälfte der Befragten sind 30-50jährige Sowjetbürger. Weit unterrepräsentiert sind Jugendliche und die Altersgruppen über 60. Die allgemeine Lage und ihre persönliche Situation beschreibt die Mehrheit als schwierig, obwohl Optimisten und Pessimisten etwa zwei gleich große Gruppen bilden. Die meisten schwanken zwischen Hoffnung und Besorgnis, Zweifel und Angst, Bitterkeit und Erwartung. Die Soziologen führen die Verunsicherung auf die Neu- und Umbewertung „historischer Errungenschaften und die Entmytologisierung von Sterotypen“ zurück.

Ein Drittel der Befragten schätzt seine eigene wirtschaftliche Lage stabil ein - bei bescheidenem Wohlstand allerdings. 27% müssen sich mit dem Notwendigsten begnügen, während es bei 29% vorne und hinten nicht reicht. Sie sind ständig bei Freunden und Verwandten auf finanzielle Unterstützung angewiesen. Wirklich materiell abgesichert fühlen sich nur 11%.

Zwei Drittel der Befragten klagen über ernste Nahrungsmittelengpässe, ein Drittel meint, auch die medizinische Versorgung hätte sich im letzten Jahr verschlechtert. Positiv dagegen merken 64% eine Verbesserung in der Arbeit der Rechtsorgane an. Doch glaubt mehr als die Hälfte, die wirtschaftlichen Veränderungen kämen nur denjenigen zugute, die schon immer verstanden, „den Wirtschaftsmechanismus auszunutzen“. Mit außerordentlicher Skepsis begegnet die Hälfte daher auch den neugegründeten Kooperativen. „Sie werden den maximalen Gewinn einheimsen.“ Von märchenhaften Preisen ist die Rede. 37% sind der Überzeugung, durch die Reformen werden vor allem „die Gauner besser leben“, hochqualifizierte und ehrliche Arbeiter hätten von den Neuerungen bisher noch nichts gehabt. Trotz allem setzen sich 37% für die Einrichtung privater Unternehmen ein, allerdings „unter gebührender staatlicher Kontrolle“. Ein Drittel befürwortet auch die Heranziehung ausländischen Kapitals.

Die Ursachen für die Schwierigkeiten des Landes schreiben 62% der Befragten der Übermacht der Bürokratie zu, da dort ein kommando-administrativer Stil, dumpfer Ressortgeist und Pseudokreativität vorherrsche. Beklagt wird in diesem Zusammenhang die Inkompetenz der Führungskräfte und die niedrige Qualifikation der Spezialisten, die auch für die technische Rückständigkeit des Landes verantwortlich gemacht werden.

Obwohl die neue Rolle der Massenmedien von 84% der Befragten positiv hervorgehoben wird, hält die Hälfte deren Bemühen um das Aufdecken stalinistischer Greueltaten nun allmählich für genug, ein deutlischer Hinweis auf die gesellschaftliche Verdrängung dieses Problems. 26% sind gar der Auffassung, das Thema werde viel zu häufig behandelt. Ganze 17% fordern noch gründlichere Beschäftigung damit. Die größten Laster der Gesellschaft orten zwei Drittel in Trunkenheit, Spekulation und Diebstahl. Obwohl der weitaus überwiegende Teil die neugewonnene „Freiheit zur Willensäußerung“ begrüßt, viele sich auch bereit zeigen, Verantwortung zu übernehmen und für eine Beschleunigung der Reformen plädiert, offenbart sich dazu ein krasser Widerspruch: Die meisten sehen kaum Chancen, durch eigene Aktivitäten politische Entscheidungen zu beeinflussen und Mißstände abzubauen.

Klare Maßnahmen „von oben“ werden erwartet. Für die Wissenschaftler Zeichen eines „noch weit verbreiteten Infantilismus“. Damit korreliert auch die „große Hoffnung in die oberste politische Führung des Landes“: Eine Veränderung an der Spitze halten 39% für wenig wahrscheinlich, 8% schließen sie völlig aus.

Eine Rückkehr zur Massenrepression können sich 10% gar nicht mehr vorstellen, 36% halten es für wenig wahrscheinlich, 35% für unmöglich. Befragt nach dem Land, wofür sie am meisten Bewunderung aufbrächten, entschieden sich 39% für Japan, ein Drittel für die USA und immerhin ein Fünftel für China. In der Gunst der Sowjetbürger führt bei den „beliebtesten Frauen“ Margret Thatcher, gefolgt von Benazir Bhutto, Mutter Teresa und der russischen Popsängerin Alla Pugatschowa. Bei den Männern, hier waren die Ergebnisse nicht so eindeutig, führt Gorbatschow vor Reagan.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen