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Kohl zwischen Wahlen und Raketen

■ Keine Einigung auf dem Raketen-Gipfel / Konflikte passen gut in Wahlkampfstrategie der Bundesregierung

Am Montag ist es soweit: In Brüssel beginnt die Nato ihren Raketen-Gipfel. Aber es wird immer unwahrscheinlicher, daß die Nato dort zu einem Kompromiß finden könnte. In Bonn hat gestern Regierungssprecher Schmülling bestätigt, daß es in der Koalition wegen der Raketen richtig gekracht hat. Ob Außenminister Genscher dabei wirklich mit Rücktritt gedroht hat, blieb offen. Wie gestern bekannt wurde, will US -Präsident Bush auf seiner Europareise den Abzug von 34.000 US-Soldaten ankündigen.

Zwei Tage vor Beginn des Nato-Gipfels am Montag in Brüssel ist so gut wie sicher, daß bis dahin ein Kompromiß in der seit Wochen auch öffentlich heftig umstrittenen Fragen atomarer Kurzstreckenraketen nicht erreicht wird. Jüngstes Indiz: Auf einer Sitzung am Donnerstag in Brüssel legten die Nato-Botschafter gemeinsam mit dem Vorsitzenden des Militärausschusses, General Wolfgang Altenburg, letzte Hand an das seit Juni 1987 angekündigte „Gesamtkonzept“, das die Allianz auf dem Gipfeltreffen veröffentlichen will. Alle Kapitel wurden diskutiert, doch der gesamte Komplex „Kurzstreckenraketen“ kam bei der Sitzung nicht einmal zur Sprache. Das deutet darauf hin, daß dieses Thema aus allen gemeinsamen Verlautbarungen des Gipfels ausgespart und allerhöchstens die Einsetzung einer Arbeitsgruppe zur weiteren Klärung der umstrittenen Fragen bekanntgegeben wird. Streitpunkt zwischen Bonn und Washington sind bis heute vor allem Zeitpunkt und Vorbedingungen für die Aufnahme von Ost-West-Verhandlungen über die Kurzstreckenraketen. In den letzten Tagen waren nicht nur der amerikanische Präsident Bush, sondern auch Vertreter der Bonner Koalition darum bemüht, die von ihnen in den letzten Wochen selbst geschürten Erwartungen auf eine einheitliche Haltung der Allianz anläßlich ihrer 40.Geburtstagsfeier wieder etwas zu dämpfen. Der Bonner Koalition kommt diese Entwicklung sehr zupaß. Einen Nato-Kompromiß, der angesichts der jüngsten US-Positionen auf jeden Fall hinter das Koalitionspapier von Ende April zurückgehen würde, können sich der Bundeskanzler und der Außenminister zum jetzigen Zeitpunkt innenpolitisch nicht leisten. Im Hinblick auf die Europawahl am 18.Juni (und möglicherweise bei weiteren Wahlen in den nächsten 18 Monaten) kalkulieren Kohl und Genscher, daß die Strategie des begrenzten Konflikts mit Washington ihren Parteien mehr Stimmen einbringt als die Demonstration bedingungsloser Geschlossenheit im westlichen Bündnis. Jüngste Umfragen demonstrieren bereits eine leichte Zunahme der WählerInnengunst, auch wegen der Bonner Haltung in der Raketenfrage. „Ein Konsens in der Nato wird erst herbeigeführt werden, wenn die existentiellen deutschen Sicherheitsinteressen von unseren Alliierten beachtet werden“ - mit dieser von Alfred Dregger am Mittwoch bereits vorab gelieferten Begründung wird sich nächste Woche auch das Scheitern des Gipfels gut verkaufen lassen.

Der Opposition raubt die Bundesregierung damit vorläufig das Wahlkampfargument, die Bundesregierung sei vor den US -amerikanischen Forderungen „eingeknickt“ (Horst Ehmke). Beim Bonner Gorbatschow-Besuch ab 12. Juni macht sich zudem der Hinweis auf eine angeblich noch offene Situation in der Nato besser, als ein bereits förmlich abgesegneter Kompromiß, der mit Sicherheit eine Absage an eine dritte Null-Lösung sowie ein Junktim zwischen Ergebnissen bei den Wiener Verhandlungen über konventionelle Streitkräfte und der Aufnahme von Kurzstreckenverhandlungen enthalten hätte. Auch die USA können mit der Vertagung des Kompromisses derzeit gut leben. Finanzierung und Entwicklung der neuen atomaren Kurzstreckenraketen werden dadurch überhaupt nicht behindert. Die ausdrückliche Unterstützung hierfür haben die Verteidigungsminister des Bündnisses - der Bonner eingeschlossen - bereits in dem Kommunique ihrer Brüsseler Tagung Ende April geschrieben. Mit diesem Dokument in der Hand besorgt US-Verteidigungsminister Cheney in diesen Wochen beim US-Kongreß die Freigabe der im kommenden Jahr benötigten Gelder für die zweite Entwicklungsphase der atomaren ATACMS, einer sogenannten Abstandswaffe mit einigen 100 Kilometern Reichweite, die auf Kampfflugzeuge montiert würde. Der Haushaltsbeschluß des Kongresses für die neuen Waffen - wie im letzten Jahr unter ausdrücklicher Berufung auf die „Unterstützung der Bündnispartner“ - soll bis spätestens Anfang Juli fallen. Das INF-Abkommen wäre damit unterlaufen.

Andreas Zumach

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