ÜBERLEBENSGESCHICHTE

■ „Masada“ von George Taboris „Theater in der Porzellangasse“ im Hebbel-Theater

Masada ist eine antike Festung in Israel, nicht weit vom Toten Meer entfernt. Sie liegt auf einem Felsen und ist von allen Seiten durch Schluchten abgeschirmt, nur zwei beschwerliche Wege führen hinauf. Eine Attraktion für Touristen, Ausflügler, Schulklassen - und dabei doch so etwas wie ein Wallfahrtsort. Masada ist Symbol für Kampf und Untergang gegen einen übermächtigen Gegner - der Schauplatz der größten kollektiven Selbsttötung der Geschichte.

Das Jahr 73 n.u.Z.: Drei Jahre zuvor war der jüdische Aufstand durch die Eroberung und Zerstörung Jerusalems und die Präsentation der Kriegsbeute auf einem Triumphzug durch Rom für die Römer offiziell beendet worden. Den Rest überließ man den Statthaltern. Nach seinem Amtsantritt stellte der Prokurator Flavius Silva fest, daß es nur noch einen Ort gab, an dem die römische Herrschaft nicht wiederhergestellt war, und machte sich mit aller Sorgfalt und Gewissenhaftigkeit daran, auch diesen Glutherd auszulöschen. Er umgab ihn mit einer lückenlosen Absperrung, so daß niemand hinein oder heraus kommen konnte. Masada war die erste Festung gewesen, die die Aufständischen den Römern abnahmen, jetzt war sie für alle, die in ihr Zuflucht gesucht hatten, zur Falle geworden - eine Falle aber, die so gut wie uneinnehmbar schien: Die Vorräte reichten für viele Monate, Kriegsmaterial war reichlich vorhanden, die Mauern von allen Seiten gesichert: „So hatten sich Natur und Technik vereinigt, um die Burg gegen feindliche Angriffe abzusichern“, vermerkt Flavius Josephus, der die Geschichte des Jüdischen Krieges aufgezeichnet hat. Die Römer aber weil sie keinen Weg fanden, schufen sie sich einen. Der Prokurator ließ seine Soldaten einen Damm aufschütten und diesen mit einem Steinpflaster befestigen, damit die Belagerungsmaschinen sicher stehen konnten. Die Mauer wurde eingedrückt. Eine Ersatzmauer aus Erde und Holz, die die Rammstöße wirkungslos machen sollte, wurde von den Römern angezündet, und weil der Wind den Eingeschlossenen entgegenblies, brannte sie restlos nieder. Als aber die Römer am nächsten Morgen zum entscheidenden Angriff ansetzten, fanden sie keine Gegner mehr, sondern nur noch Leichen über Leichen. Nur sieben Menschen, die sich in einer Wasserleitung versteckt hielten, überlebten: fünf Kinder und zwei Frauen, darunter eine Verwandte des Eleazar, Führer der Belagerten.

Bei George Tabori ist der Ort des Geschehens durch die zeitliche Entfernung geschrumpft, Masada ist eine detailgenaue Sandburg. Gequalle und Gezirpe erfüllen die Luft, widerliche, froschige Geräusche wie Verwesung und Massengrab. Aus der aufgerissenen Erde ragen Stacheldraht, Kleidungsstücke, Reste. Mittendrin, in sich zusammengesunken, die Verwandte des Eleazar (Hildegard Schmahl). Kraftlos zieht sie Überreste aus der Erde Kinderschuhe, Häftlingskleidung, Leichenteile - sammelt sie in einer Schubkarre. Dann, mit einer großen Willensanstrengung, gräbt sie hastig ein Loch - rein damit, Erde drüber, begraben, nur weg. Ein Mann in einem schwarzen Mantel betritt die Bühne. Nachdenklich wirft er einen Blick auf die Szenerie, dann zieht er entschlossen einen Hut aus dem Dreck, klopft den Staub ab, setzt ihn auf, begibt sich ans Pult, schafft Ordnung. Es ist Josephus, der Geschichtsschreiber (Michael Degen).

George Tabori hat sie beide, die sich tatsächlich wohl nie begegnet sind, auf dem Bühnenbild von Louise Czerwonatis zusammengeführt - die Überlebende des kollektiven Untergangs und den Geschichtsschreiber. Josephus aber war nicht nur Zeuge des Krieges, sondern auch Beteiligter. Die Aufständischen hatten ihm die Verteidigung Galiläas gegen die Römer übertragen. Bald nach dem Beginn des Krieges, nach der Eroberung der Festung, in der er sich verschanzt hatte, wurde er gefangen genommen.

Michael Degen spielt ihn als einen eifrigen kleinen Mann, als einen Gelehrten, der zwar mitten im Leben, aber dennoch ein wenig abseits steht, und manchmal gerät er ins Jiddische. Nachdem so viele, die über diesen Krieg berichtet haben, sich von Haß gegen die Juden oder von Schmeichelei für die Römer leiten ließen, will Josephus nun getreulich berichten, richtigstellen. Er liest die Rede vor, die er an die Verteidiger von Jerusalem gehalten hat, um sie zur Aufgabe zu bewegen: Gott will nicht, daß die Juden zu den Waffen greifen und kämpfen, sein Wille ist vielmehr, daß sie dort ausharren, wo sie stehen. So sehr er aber von der Richtigkeit seiner Argumentation überzeugt ist - immer wieder verspürte er die Sehnsucht, kämpfen zu dürfen, mitzuleiden.

Nach einer Beschreibung Masadas überläßt er es der Verwandten des Eleazar, die Rede wiederzugeben, mit der Eleazar seine Leute dazu bewegen konnte, lieber sich selbst zu töten, als den Römern in die Hände zu fallen. Hildegard Schmahl unterstreicht einzelne Worte mit hochtheatralischen Gesten, wodurch aber die Abgründe, die sich in der sophistischen Argumentation auftun, eher zugekleistert als gezeigt werden.

Schließlich die Frage des gewissenhaften Chronisten: „Und Sie, warum haben Sie überlebt?“ Er bekommt die Frage zurück. Josephus konnte sich nach der Eroberung der von ihm verteidigten Stadt in eine Zisterne retten, wohin sich schon 40 andere geflüchtet hatten. Sie wurden entdeckt, Josephus war bereit, sich zu ergeben, die anderen aber hinderten ihn daran. Sie beschlossen, sich gegenseitig den Tod zu geben und das Los entscheiden zu lassen, wer wen tötet. Als nur noch zwei übrig waren, konnte Josephus den anderen überreden, sich den Römern zu ergeben. Josephus überlebte, weil er einen Auftrag hatte. Als letztes Wort des Stücks erhielt er einen Namen, der die ganze Zeit in der Luft und in der Erde lag: Auschwitz.

Man verließ das Hebbel-Theater ratlos. Die einzelnen Teile wollten nicht recht ein zusammenpassendes Bild ergeben. Das Stück schien so unzugänglich wie die gleichnamige Festung. Sparsam inszeniert, zeitweise mehr szenische Lesung als Theater. Und dann dieses unangenehme, knirschende Geräusch, wenn die SchauspielerInnen auf etwas traten, was sie offenbar nicht sehen konnten, was einen immer wieder zusammenzucken ließ - wie wenn man dauernd etwas Filigranes zertrampelt, obwohl man es doch verhindern möchte. Dem Publikum aber war's offenbar wurscht: Jenes letzte Wort des Stücks war noch nicht ganz verklungen, da drängten sich schon die ersten danach, Beifall zu klatschen, und auch die Dame neben mir, die die ganze Zeit vor sich hin gedöst und gegähnt hatte, merkte, daß es zu Ende war, und sprang auf, um ihrer Begeisterung darüber mit lauten Bravorufen Ausdruck zu verleihen, denn schließlich hatte der Meister, der dann auch die Bühne betrat, heute Geburtstag.

Waren das wirklich alles Josephus-Zitate gewesen? Zum größten Teil schon. Zu Hause sehe ich noch einmal nach: „Verharrten unsere Väter auf dem Platz, wo sie standen, dann siegten sie, wenn der Richter es zuließ, wagten sie aber dennoch den Kampf, dann bedeutete dies jedesmal ihre Niederlage.“ - Doch, das hat er so geschrieben. Ähnliches aber propagierten auch andere: „Stecke dein Schwert an seinen Ort! Denn wer das Schwert nimmt, der soll durchs Schwert umkommen“ - diese Worte legte bald nach dem Ende des Jüdischen Krieges, aus dem sie sich herausgehalten hatte, eine Sekte, aus der später eine Weltreligion wurde, ihrem Propheten in den Mund. Doch dessen Anhänger hielten sich nur so lange daran, wie sie keine Macht hatten. Eine Million Leben hatte der Krieg gekostet, Hunderte von Gefangenen wurden im Zirkus zur Volksbelustigung abgeschlachtet. Die politische Identität des jüdischen Volkes war gebrochen, Jerusalem lag in Trümmern, durfte von Juden nicht mehr betreten werden. Nicht kämpfen, sondern ausharren und auf Gott vertrauen - um diese Erkenntnis zu verkünden, hatte Josephus überlebt, das war sein Auftrag.

Und heute? Die ersten Worte, die die Verwandte des Eleazar müde und stockend inmitten der Hinterlassenschaften des Sterbens und Tötens hervorgebracht hatte, waren: „Stell dir vor, wenn eines schönen Tages dies aufhörte...“ Heute gibt es wieder einen Staat Israel. Mit einer schlagkräftigen Armee. Und kampfbereiten BewohnerInnen. Am Ende steht Josephus auf dem Felsen von Masada und sieht sich auf drei Seiten von Ländern umgeben, die den Juden feindlich gesonnen sind, und „im Westen sieht man an klaren Tagen Auschwitz“.

Michael Vahlsing