: Das heimliche China
■ Marihuana, Rockstars, Sex and Crime und allerhand anderes Unerwartetes aus dem neuesten China
Marc Boulet
Um China mit chinesischen Augen sehen zu können, hatte sich der 25jährige französische Reporter Marc Boulet falsche Papiere machen lassen. Mit seiner Arbeitskarte, die aus ihm Abdul Karali, einen Kasakh-Tänzer, machte, also den Angehörigen einer chinesischen Minderheit, konnte er fünf Jahre lang frei durch ganz China reisen. Er heiratete eine Frau aus Peking, paßte sich so erfolgreich an, daß er manchmal „wir“ sagt, wenn er von den Chinesen spricht. Unter dem Titel „In der Haut eines Chinesen“ ist sein Buch erschienen, ein erstaunliches Dokument, das vom französischen Verlag Bernard Barrault herausgegeben worden ist. Marc Boulet zeigt dort (in Wort und Bild) das illegale China, das China der Drogen, des Sex und der Korruption. Marihuana in Makitt
Marihuana wächst überall. Auf Parzellen in der Größe eines Ar oder längs der Mais- oder Baumwollpflanzungen. Während wir vorbeigehen, setzten die männlichen Pflanzen kleine Pollenwölkchen frei. Von weitem höre ich das Radio. Es kommt mir vor, als ob in Makitt nur zwei Dinge existierten: die Droge und die Propaganda aus den Lautsprechern. Sie hallt von den Bäumen wider; die Sonne, die zu brennen beginnt, und der Duft nach frischen Nüssen, Schokolade und Marihuana, der die Luft erfüllt, betäuben mich und machen mir den Kopf leicht schwindelig. Ich schlage Mehmet vor, anzuhalten, um uns auszuruhen. Wir legen uns in den Schatten eines Marihuana-Haines. Die Füße in der Sonne und die Köpfe geschützt durch die mehr als drei Meter hohen Stämme. Mehmet gibt mir meine erste Unterrichtsstunde.
Er bricht einen Zweig ab und schält das obere Stück. Nur die Spitzen der weiblichen Pflanzen können gebraucht werden. Er öffnet die Hand und zeigt mir die Körnchen. Sie sind noch ganz grün.
„In vierzehn Tagen sind sie reif. Dann sind sie schwarz.“ Er scheint glücklich zu sein und macht sich einen Joint. Er kifft den ganzen Tag über; er liebt das. Ich sehe ihn ständig ein kleines, zehn mal fünf Zentimeter großes Rechteck aus der 'Volkszeitung‘ ausschneiden, es in Form einer Tüte rollen und es mit einer Mischung von Haschisch und Tabak vollstopfen - im Verhältnis ein Drittel zu zwei Drittel.
Er erklärt mir, die Druckerschwärze intensiviere den Effekt des Narkotikums.
„Das ist unsere Art, uns die 'Volkszeitung‘ zu Gemüte zu führen“, versichert er, mit dem Kopf wackelnd und einem breiten Grinsen auf den Lippen.
Am folgenden Tag ernten wir das Marihuana. Abliz, der Cousin von Mehmet, hilft uns. Die Leute hier haben noch nie etwas von Alain Delon, Mitterand oder Caroline von Monaco gehört, aber, bei Allah, sie verehren unseren Fußballer Platini. Und zwischen zwei Schnitten mit der Sichel, unter der drückenden Sonne, verlangt Abliz, daß ich ihm von seinem Idol erzähle. Ich weiß nichts über ihn, aber ich erfinde ein bißchen, um Abliz einen Gefallen zu tun.
Wir arbeiten in aller Ruhe und versuchen auch gar nicht, unser Tun zu verheimlichen. Für die Beamten der öffentlichen Sicherheit sammeln wir eben Hanf, und sie ignorieren, daß es auch eine Droge ist. Wir sagen ihnen, der ist für unsere Tauben, und sie glauben uns. „Und das stimmt sogar, die Vögel mögen Hanfsamen gern“, bestätigt Mehmet.
Ich glaube ja eher, daß die Autoritäten die Augen schließen, um die Uiguren nicht noch unzufriedener zu machen und um in dieser grenznahen und strategischen Region keine zusätzlichen Meutereien zu provozieren. Dank dieser stillschweigenden Übereinkunft wuchert das Marihuana offen und auf jedem Bauernhof. Makitt ist in ganz China bekannt dafür.
Mehmet stellt fest, daß das Marihuana trocken ist. „Es ist Zeit, Haschisch zu machen. Das ist die Aufgabe meiner Frau.“
Am frühen Morgen sitzt Mehmets Frau auf dem Hof und zerbröckelt die Stangen. Sie nimmt ein Sieb und schüttet die zerbrochenen Pflanzen hinein. Staub fällt heraus. Die Familie filtert den Staub durch ein etwas kleineres Sieb. Und noch mal... einmal, zweimal, dreimal, viermal... Der Staub wird feiner als Mehl, und ein Luftzug beginnt ihn zu zerstreuen. Die Augen und die Kehle brennen unerträglich.
„Das reicht“, ruft Mehmet. Der Puder klebt an den Fingern. Es haftet zusammen. Abfall gibt es keinen. Das ist Haschisch. Es genügt nun, es drei Tage lang auf dem Dach zu lüften und feucht werden zu lassen; dann können wir es pressen und formen. 23 % der Scheidungen wegen sexueller Unstimmigkeiten
In Peking trennen sich fünf Prozent der Brautpaare wieder durch eine Scheidung. 1986 wurden, gemäß dem staatlichen Statistikbüro, 506.000 Scheidungen in China ausgesprochen. 60 Prozent davon auf Forderung der Ehefrau.
Bei 23 Prozent der in Schanghai ausgesprochenen Scheidungen war der Trennungsgrund sexuelle Unstimmigkeit. Für den Autor des Werks „Die Liebeskunst der modernen Ehefrau“ - 1986 herausgegeben vom Literarischen Volksverlag Chinas - ist diese Prozentzahl eine Unterschätzung: „Wir übersehen dabei, wieviele Paare nicht das Gesicht verlieren wollen und sich weigern, an dieses Problem zu rühren.“ In diesem Werk ist auch eine Studie veröffentlicht über die Häufigkeit der sexuellen Beziehungen der Jungverheirateten. 20 Prozent der Paare lieben sich ein- bis fünfmal im Monat, 42 Prozent sechs- bis zehnmal, 20 Prozent elf- bis fünfzehnmal, acht Prozent sechzehn- bis zwanzigmal und nur zwei Prozent öfter als zwanzigmal im Monat.
1985 eröffnete ein Gynäkologe in der Zeitschrift 'Die chinesische Frau‘, daß „bei neun von zehn Geschlechtsakten die chinesische Frau keinen Orgasmus erreicht“. Der Ehefrau wird empfohlen, geduldig und dem Ehemann, weniger brutal zu sein. Für beide gilt, den Geschlechtsakt entsprechend der Wissenschaft und der Moral zu vollziehen - und es abends zu tun. „Anschließend werden Sie tief und fest schlafen...“ Wohingegen „es“ tagsüber ermüdend wirkt. Besonders morgens, zur Frühstückszeit.
Wenn die sexuellen Bedürfnisse der Frau für eine längere Zeit nicht befriedigt werden, wird sie reizbar, leidet unter Schlaflosigkeit und Depressionen. Ihre Gesundheit schwindet dahin, und sie wird krank. Sie arbeitet nicht mehr und verliert das Interesse an ihrer Familie. „24 Prozent der Frauen und 30 Prozent der Männer leiden unter sexuell bedingter Schlaflosigkeit“. Was Geschlechtskrankheiten betrifft, so versichert das erwähnte Werk, daß es leider keine Methode gibt, mit der man befallene Personen erkennen kann. „Wenn Sie nicht angesteckt werden wollen, gibt es nur die Möglichkeit, keine wechselnden Partner zu haben.“ Gebratener Hund
und rote Bohnen
Seit zwei Jahren organisieren die Verwaltungen verschiedener Städte regelmäßige Ausstellungen über Sexualität. Wir besuchen eine, die von der wissenschaftlichen Akademie in Haikou organisiert wurde und vom 26.Dezember bis zum 3.Januar 1987 stattfand.
Die Eintrittskarte kostet 18 Pfennige - das ist ungefähr der Lohn für zwei Arbeitsstunden.
Etwa 40 Besucher, alles Männer, wandern bedächtig durch den Ausstellungssaal. An den Wänden sind große Tafeln zu verschiedenen Themen aufgehängt: „Aphrodisiakische Rezepte: Für Jungverheiratete, die unter Frigidität oder Impotenz leiden: 250 Gramm Hundefleisch mit 50 Gramm schwarzen Sojabohnen braten. Für die, die zu oft lieben und sich ein bißchen schwach fühlen: braten Sie 250 Gramm mageres Fleisch und 50 Gramm Kresse, salzen Sie es, und runden Sie das Gericht mit Reisalkohol ab. Um seine sexuelle Potenz zu erhalten, sollte der Ehemann nach jedem Beischlaf ein Glas Zuckerwasser mit zwei Eßlöffeln der folgenden Mischung trinken: ein Pfund geröstete Nußschalen und ein Pfund gemahlene Sesamkerne.“
„Sexuelle Unstimmigkeit: Versuchen Sie, sich zu streicheln und sich zärtliche Sachen zu sagen.“
„Homosexualität: Das ist eine Gemütskrankheit. Die Organe eines Homosexuellen sind normal, aber seine Vorstellung von Sex ist anormal, und es ist ihm unmöglich, einer Person des anderen Geschlechts beizuwohnen. Bei den homosexuellen Paaren, seien sie nun männlich oder weiblich, ist normalerweise nur einer der Partner tatsächlich homosexuell. Homosexualität verursacht Hepatitis und Aids. Der Homosexuelle muß die Gesetze achten und nicht der Gesellschaft schaden. Wenn Sie homosexuell sind, suchen Sie einen Psychiater auf.“
„Masturbation: Das ist eine extrem schädliche Praktik! Sie kann Sie impotent machen oder Ihre Organe schädigen (ganz besonders die der Frauen). Außerdem werden Sie erschöpft und jähzornig. Wenn Sie masturbieren, müssen Sie damit aufhören! Sie haben es schon versucht, ohne es zu schaffen? Hier einige Empfehlungen:
-Vor allem studieren Sie die kom munistische Lehre!
-Die Jungen sollten vermeiden, zu früh an Mädchen zu denken.
-Üben Sie einen Sport aus.“
„Jungfräulichkeit: Hüten Sie sie. Wenn Sie sie vorzeitig verlieren, werden Sie dadurch unglücklich und krank und schaden damit der Gesellschaft.“
In der Mitte des Raums sind Fehlgeburten ausgestellt, Penisse, Vaginen und eine krebsgeschädigte Brust - alles in Formol konserviert. Ein Rockstar von 18 Jahren
Sie ist die bekannteste Sängerin der Welt. Ich höre ihren neuesten Song in allen Läden, in allen Kneipen, in allen Zügen, in allen Bahnhöfen.
„Weißt du nicht, daß ich dich liebe?
Komm zurück! Ich denk an dich.
Meine Liebe wird sich niemals ändern.“
Zhang Qiang heißt sie.
Sie ist der erste chinesische Rockstar, und wir beten sie an. Die Arbeiter, die Soldaten, die Studenten, die Jugendlichen reden nur von ihr. Überall, auf der Straße oder zu Hause, summen wir ihre Lieder, die diese schlichte Machart haben, die sofort zum Herzen geht.
Sie kommt aus Schanghai, heißt es. Sie ist die Schönste ... die Wildeste ... Sie sprengt alle Verkaufsrekorde mit ihren Kassetten. (Kassetten sind das einzige Medium in China, mit dem Musik reproduziert werden kann.)
Ich mache mich auf nach Schanghai. Unmöglich, sie zu treffen. Sie ist ein Mythos. Alle Kassettenverkäufer, die ich treffe, versichern mir, daß sie keine Schanghaierin ist. Sie dachten, daß sie in Peking leben müßte. Aber sie sind sich letzten Endes nicht sicher, und die verrücktesten Gerüchte gehen über sie um.
Ich suche in Peking weiter nach ihr, und schließlich kritzelt der Produzent ihrer letzten Kassetten mir ihre Adresse auf ein Stückchen Papier. Es ist der Schlafsaal der Pekinger Filmstudios. Dort wohnen die Schauspieler, Regisseure und Techniker des chinesischen Kinos. Ein finsterer und schmutziger Ort.
Zhang Qiang teilt sich da zwei Zimmer mit ihrer Mutter, ihrem Stiefvater, ihrem Bruder, ihrem Großvater und ... all ihren Katzen.
An diesem Samstagmorgen friert es auf den Fluren, und der Geruch von Exkrementen und Abfällen macht mich würgen. Völlige Finsternis. Nichtsdestotrotz höre ich die Bewohner kochen und vor die Tür pinkeln.
Ich klopfe an die Tür von Zhang Qiang. Ihre Mutter öffnet mir und heißt mich wärmstens willkommen. Sie lädt mich ein hereinzukommen. „Niemand kann sich vorstellen, daß die berühmte Zhang Qiang in einer solchen Bruchbude wohnt“, sagt sie.
Mit 18 Jahren ist sie der meistverkaufte Rockstar der Welt. Und das ohne irgendwelche Public Relations, ohne Reklame. Sie wurde von den Autoritäten als zu dekadent beurteilt, und ihre Lieder werden nie im Radio oder Fernsehen gespielt.
Ich frage sie: „Bist du reich?“ „Kann man sagen... Für jede Kassette kriege ich 10.000 Yuan.“ (ca. 3.500 Mark)
Das ist viel Geld. Das sind zehn Jahreslöhne eines durchschnittlichen Pekingers, der übrigens zwei Tage arbeiten muß, um sich eine Musikkassette zu kaufen.
Ich frage sie, wie sie all das Geld ausgibt und warum sie noch in dieser Bruchbude im chinesischen Hollywood lebt. „Wenn ich so viele Platten im Westen verkauft hätte, hätte ich schon mein eigenes Haus und ein Auto“, stellt sie fest. „Hier ist es anders. Ich habe ein Appartement in Aussicht, aber ich muß noch sparen... Weißt du, mein Tick sind eben Pelze. Mit dem Geld, das ich verdiene, kaufe ich mir Pelze. Meine nächste Kassette bringt genausoviel ein, wie der Mantel aus Seehundbabyfell kostet, den ich im Freundschaftsladen gesehen habe. Es ist der teuerste im ganzen Laden!“
Ihre Kunst ist nicht gerade marxistisch, und ich frage sie, ob ihr die Autoritäten nicht feindlich gesonnen sind.
„Sie versuchen es; sie durchforsten meine Texte, aber sie finden nichts, was sie zensieren könnten. Also fordern sie von mir immer neue Steuern.“
„Deng Xiaoping, zum Beispiel, kennt er deinen Namen?“
Sie zieht einen Flunsch. „Ich glaube schon. Im vergangenen Jahr hat sein Sohn mich zugunsten der Behindertenvereinigung Chinas singen lassen, deren Präsident er ist.“ Strandleben
Die beiden Toyotas verbrennen den Asphalt und geben sich quer durch die graue Landschaft nach Beidahe ein Rennen. Chang Ri liebt den Luxus und lehnt es ab, den Zug zu nehmen. Am Vorabend hat er daher diese beiden Autos in Peking stehlen lassen.
Der Zigarettenhandel läuft gut, schon seit einigen Monaten, und er hat beschlossen, seiner Bande ein Wochenende mit Mädchen am Meer zu schenken.
Mich hat er gleich mit eingeladen.
Beidahe ist ein Traumstrand. Mao ging zum Meditieren hierhin. Der Strand ist reserviert für Kader, Helden der Arbeit und Ausländer.
„Ferien“ gibt es in China nicht, und theoretisch ist es unmöglich, sich in Beidahe aufzuhalten, wenn man keine Einladung seiner Arbeitseinheit hat. Eine Woche Vollpension kostet 100 Yuan, mehr als einen Monatslohn. Alle Hotels weisen „Belegt„-Schilder vor, und wir haben natürlich noch nicht einmal die Genehmigung, uns hier aufzuhalten. Nichtsdestotrotz - einige Stangen Zigaretten regeln die Sache. Die Portiers eines Hotels lassen sich so überzeugen und verschaffen uns Zimmer.
Kaum angekommen, runter mit den Hosen. Her mit den Badesachen, den Handtüchern, dem Sonnenschirm, dem Wasserball, dem Bier, den Walkie-talkies, den Marlboros, und wir stürmen an den Strand wie eine Horde überdrehter Jugendlicher.
Chang Ri ist schon im Wasser.
Die ganze Bande taucht ihn unter.
Er läßt es sich gefallen.
Gebrüll und Gelächter.
Der Strand ist nicht lang. Vielleicht fünfhundert Meter. Mehrere tausend Badegäste drängeln sich, Ellbogen an Ellbogen, Knie an Knie, und lassen sich bräunen. Die Haut der Han kann die Sonne eigentlich nicht vertragen. Aber sie benutzen absolut keine Sonnencreme und lassen sich von früh bis spät braten. Das Wichtigste ist, nach der Rückkehr angeben zu können, bei Freunden und Bekannten, daß man in Ferien war. Die Hälfte der Badegäste hat Hemden oder Kleider an oder aufgekrempelte Hosen, die anderen tragen Badeanzüge ... aber alle die gleichen. Man kann sie am Strand ausleihen, für etwa 15 Pfennig. Sobald einer zurückgegeben wird, leiht ihn schon der nächste Anwärter aus, noch feucht und heiß vom letzten Kunden.
Für Männer gibt es eine Art Slip mit breiten Streifen. Für Frauen einteilige Spielanzüge, in rot oder blau, garniert mit hübschen Rüschen.
Alle sehen gleich aus, und alle sind glücklich.
Man leiht sich die gleichen Luftmatratzen aus, und man hangelt sich zu mehreren darauf. Alle Welt tobt herum, rennt ins Wasser, lutscht Eis am Stiel, kauft Ketten aus falschen Perlen, flirtet und frißt sich voll; morgens, mittags und abends, am Strand oder auf dem Zimmer, mit den berühmten blauen Krabben aus Beidahe.
Man spielt Karten, man buddelt sich im heißen Sand ein, man raucht Marlboro. Man trinkt Orangensaft. Man fischt nach Muscheln. Man macht Pipi ins Wasser und versucht ein bißchen herumzupaddeln, weil die meisten nicht schwimmen können. Man steht Schlange für eine Spazierfahrt mit dem Motorboot... Die Mädchen tauchen die Jungs unter und lassen sie ordentlich Wasser schlucken. Foto! Oh, man liebt das. Die Truppe der etwa 50 Berufsfotografen, die über die Felsen, den Strand oder durchs Meer flitzt, hat keinen Arbeitsmangel. Zwischen zwei Wellen sprechen sie uns an und schlagen uns vor, den Katalog in der Hand, diese unvergeßlichen Ferien unsterblich zu machen, mittels einer dieser Fotomontagen, wo Doppelbelichtung und Unschärfe schon allein fast ins Delirium führen.
Sie kommen für die Saison aus der Mandschurei. Jedes Foto verkaufen sie zum Preis eines Arbeitstages und kehren Ende September mit gefüllten Taschen nach Hause zurück.
Der Ausländerstrand ist neben dem öffentlichen Strand eingerichtet worden und für Chinesen verboten. Überirdisch ist er durch Seile abgetrennt und unter Wasser durch ein tiefes Netz.
Nach dem Baden hängen sich die Touristen gern an das Seil und starren mit Neugier und Bitterkeit auf diesen schönen, verlassenen Strand, wo sich einige Zugereiste und chinesische Kader aalen.
Einige Mutige versuchen wohl, über das Seil zu springen, aber sie werden ohne Umstände von den Wächtern zurückgeschubst. Andere, Schlauere, suchen sich einen Strauch. Von dort aus, aus dem Schatten, spionieren sie den ganzen Tag lang mit Ferngläsern nach weißen Bikinischönheiten.
Einen Kilometer weiter nördlich von hier bewachen bewaffnete Soldaten den Strand, der für die Partei- und Staatschefs reserviert ist. Drei Netze, die hintereinander im Wasser befestigt sind, schützen dort vor eventuellen Terroristen. Sex and Crime
Die chinesischen Medien haben die Angewohnheit, außergewöhnliche Informationen mit einer gewissen Verzögerung zu berichten. Diese Zeit der Reflexion kann einige Monate dauern, oder mehrere Jahre.
Am 22.April 1987 explodierte in der Mandschurei ein Reisezug, morgens, in dem Moment, als er über die Brücke fahren wollte, die über den Fluß Songhuajiang führt. 48 Stunden später, das heißt am 23., meldeten Presse und Fernsehen die Katastrophe. Kein einziger Journalist erwog die Möglichkeit eines Anschlags, noch versuchte jemand zu erklären, wie ein Eisenbahnwaggon von allein explodieren kann. Alle sagten das gleiche:
„Der Wagen 14 der Hartsitz-Abteilung (unterste Klasse) explodierte genau in der Mitte der Brücke. Elf Tote und 45 Verletzte sind die Bilanz. Die Brücke wurde nicht zerstört. Die lokale Parteiführung erschien sofort am Unglücksort, um sich der Verletzten anzunehmen und sie ins Krankenhaus zu überführen oder sie sogleich entsprechend zu behandeln. Die Polizei ermittelt, aber die Ergebnisse stehen noch nicht zur Verfügung.“
In Peking wie in der Provinz sind die Zeitungskioske voll mit allen Sorten an Literatur. 30 Prozent ihres Inhaltes sind dem Ausland gewidmet. Die weißen „Topmodels“ räkeln sich auf den Titelblättern, und die chinesischen Herausgeber zögern nicht, die westlichen Magazine zu beklauen, denen sie Texte und Fotos stehlen. 'Vogue‘ lieben sie ganz besonders und die Kaufhauskataloge. Manchmal finde ich, wenn ich chinesische Zeitschriften durchblättere, Quelle- oder Neckermann-Signets in der Ecke eines Fotos.
Die Chinesen haben Geschichten von Crime und Sex furchtbar gern, und seit drei Jahren veröffentlichen die chinesischen Magazine mindestens eine davon jeden Monat. Die Leute bleiben stehen, wählen aus, blättern, kaufen. Sie lesen zu Hause, im Zug, unterwegs oder auch heimlich.
Kleine Taschenbücher zur sexuellen Aufklärung verkaufen sich, obwohl sie teuer sind (ein Tageslohn), gut auf der Straße. Das 'Pekinger Tageblatt‘ hat 1985 eine Sammlung von 31 Liebesgeschichten veröffentlicht: „Mädchen seid wachsam!“ Der Bestseller:
„Ich bin hübsch. Ich bewundere die Filmstars, aber ich beneide sie manchmal auch. Im letzten Jahr sah ich den Film Der blaue Traum und ich war von dem männlichen Hauptdarsteller fasziniert. Ich schrieb ihm, legte meine schönsten Fotos bei, und er antwortete mir mit seiner Adresse. Ich ging ihn besuchen. Er erzählte mir von westlichen Stars und der Schauspielkunst. Er sagt, die wahre Kunst eines Schauspielers rühre aus seinen Erlebnissen her. Er bittet mich, meinen Rock auszuziehen, um zu sehen, ob meine Figur gut ist oder nicht. Um der Kunst willen gehorche ich. Daraufhin umarmt er mich und in der Nacht schläft er mit mir. Gestern habe ich gehört, daß er ein Gauner war und daß er im Knast sitzt. Ich bin schwanger. Ich habe Angst, zum Arzt zu gehen. Ich ging zum Fluß, aber ich hatte keinen Mut zu springen. Ich bin erst zwanzig Jahre alt. Ich schreibe, um andere Mädchen zu warnen.“
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen