: Richtig heimisches Urgestein läßt sich nicht verkaufen
Der Gold-Achter aus Seoul macht ein Jahr Pause / Der riesige Wirbel um die Ruderer zog weder Werbung noch Sponsoren an ■ Aus Dortmund Herr Thömmes
Der Kampf mit dem Rudersimulator dauert exakt sechs Minuten. Dann sinkt Matthias Mellinghaus erschöpft in sich zusammen, schweißüberströmt. Ein Blick auf den schuhkartongroßen Kasten, der neben dem Ergometer auf dem Boden steht. In leuchtendem Rot sagt die digitale Anzeige: 378 Watt. Ziemlich schlapp.
Dr. Uli Hartmann überträgt Ziffern in ein Leistungsprotokoll: Schlagzahlen, Herzfrequenzen, minütlich gemessen, Gewicht, Puls. Aus dem linken Ohrläppchen drückt er mehrfach Blutstropfen, füllt sie um in kleine Fläschchen. Er braucht den Laktatwert des Ruderers als weiteren Parameter, „nur zusammen gibt das Auskunft über seinen Zustand“. Weil die maximale Kraft nicht aussagt, wie hoch Belastbarkeit und Ausdauer sind.
Am nächsten Morgen, im Ruderstützpunkt Dortmund, wird der Wissenschaftler dem Sportler die Zahl 21 zurufen, was dieser lachend mit einem Fluch quittiert. Eckard Schultz, als Schlagmann im Zweier Mellinghaus‘ Partner, hat eine simple Deutung dieses Wertes: „Nullkommaeins mehr, und er wäre in tiefe Lähmung gefallen.“ Hartmann flachst noch einen hinterher: „Dabei war er nach vier Minuten schon giftgrün im Gesicht.“
Doch Olympiasieger Matthias Mellinghaus ist nicht der einzige aus dem Gold-Achter von Seoul, der leistungsmäßig etwas aus dem Ruder gelaufen ist. Auch die anderen, die sich im Labor der Sporthochschule Köln bei Hartmann Tests unterzogen haben, lagen „fünf bis zehn Prozent schlechter als im vergangenen Jahr“. Kein Wunder: Bis auf Ansgar Wessling, der auch in diesem Jahr voll trainiert, lassen es die anderen etwas ruhiger angehen. Und Thomas Möllenkamp, der Bugmann, hat mit 27 Jahren dem Hochleistungssport ganz ade gesagt.
Wann hätten sie denn überhaupt ins Boot steigen und sich in die Riemen legen sollen? Nach dem großen Erfolg bei Olympia Mitte September und der Rückkehr aus Korea ging es auf die große Gratulationstour. Keine Fernsehsendung, die sich nicht mit den acht Riesen - Durchschnitt: 196 cm, 91 kg - und ihrem schmächtigen Steuermann schmücken mochte; keine Politikerhand, die nicht geschüttelt werden wollte.
Blühender Chauvinismus
Es war ja schon immer etwas Besonderes, eine Goldmedaille in dieser Bootsgattung, gerne auch als „Flaggschiffe“ tituliert. Endlich wieder einmal, nach zwanzig Jahren, als der vom legendären Karl Adam trainierte Achter ganz vorne lag, ein Erfolg, der sich schön mit chauvinistischer Symbolik umranken ließ.
Schon während des Finallaufes in Seoul hatte der Kommentator Wolfram Esser (ZDF) derart penetrant „Deutschland, Deutschland“ gebrüllt, daß er beim Satiremagazin 'Titanic‘ zu Recht Aufnahme unter die „Sieben peinlichsten Persönlichkeiten des Monats“ fand. Und im Programmheft zur Ehrung der „Sportler des Jahres 1988“ wurde munter in schwarz-brauner Tonlage schwadroniert: „Richtiges heimisches Urgestein, auf so verdammt überzeugende Art gut deutsch.“
Die Republik holte aus zum Schulterklopfen. Prall gefüllt sind die Terminkalender der Olympioniken aus jenen Tagen: Thomas Gottschalk und Dieter Thomas Heck, Richard von Weizsäcker und Helmut Kohl, Friedrich Zimmermann und diverse Bürgermeister, Autokorso in Dortmund, 'Bild'-Ball des Sports, Bundespresseball, Silbernes Lorbeerblatt, Sportpressefest, ARD-Gala, Bambi-Verleih, Sportler des Jahres, Josef Neckermann.
Heute hier, morgen dort. „An einem Wochenende“, erinnert sich Mellinghaus, „habe ich 2.000 Kilometer mit dem Auto runtergerissen.“ Da konnte Uli Hartmann in seinem Kölner Labor lange warten. „Bis März und April“ hat es gedauert, sagt er, ehe die Letzten wieder mal auftauchten zwecks Analyse zur Trainingssteuerung. Normalerweise aber beginnt die Vorbereitung auf die Saison im Oktober, „und an Weihnachten ist der Winter um“ (Hartmann).
Zu der Zeit bastelte Ralf Holtmeyer schon am neuen Achter. Dem jungen Trainer, 33, „war gleich nach dem Rennen in Seoul klar, daß die nie wieder so zusammen fahren“. Nach einem Jahr wie dem vergangenen ist einfach Ruhe angesagt. Regelmäßig zwanzig Stunden hartes Training die Woche, aufgeteilt in zwei Einheiten pro Tag, dazu Massage und ärztliche Kontrolle, Trainingslager und Regatten, da bleibt keine Zeit für Studium, Arbeit, Privatleben. Zumal nicht alle der Athleten am Stützpunktort Dortmund zu Hause sind. Für den Nachholbedarf der Sportler bringt Holtmeyer Verständnis auf - notgedrungen.
Gold läßt sich nicht versilbern
Zumal auch „professionelle Arbeit wie im vergangenen Jahr“ (Holtmeyer) im Rudern noch keine Profis macht. Daran ändert auch der ganze öffentliche Wirbel nichts, der um den Achter veranstaltet wurde. „Irgendwann“, wundert sich Burkhard Schultz, „fing die Presse an zu schreiben: 'Jetzt wird das Gold versilbert'“. Der Bruder des Ruderers Eckard hat vor und nach den Spielen als eine Art Manager fungiert, doch viel Silber ist ihm dabei nicht untergekommen.
Gut, gleich einen Tag nach dem Gewinn der Medaille, noch in Seoul, wurde jedem aus dem Boot für ein Jahr die Nutzung eines Daimler angeboten. Bares jedoch floß auch hier nicht. Und wer gedacht hatte, die Werbeangebote würden nur so ins Haus flattern, sah sich getäuscht. Zwei Fototermine in Firmen-T-Shirts, „einmal mußten wir Müsli-Riegel ins Bild halten“, brachten den größten Batzen an Geld. Der Rest war Kleinkram. Alles zusammen bringt das jedem der Neun, Steuermann inclusive, „keine fünfstellige Summe“ - vor Steuern.
Die Öffentlichkeit ist da andere Zahlen gewöhnt von Sportarten wie Tennis, Fußball und einigen Stars der Leichtathletik. Nur so kann sich Mellinghaus erklären, daß ihn die Leute in seiner Heimatstadt Herdecke fragen, „ob ich jetzt ausgesorgt hab‘ für den Rest des Lebens“. Sonst sind sie alle reichlich beschenkt worden bei den zahlreichen Ehrungen: Uhr, Krawattennadel, Ringe von unglaublicher Häßlichkeit, Zinnteller. Zuwendungen, die für Menschen mit etwas Geschmack eher Zumutungen gleichkommen.
Einen Insider wie Trainer Holtmeyer kann die materiell mäßige Ausbeute der Goldmedaillen nicht verblüffen, „die Sache mit dem Geld“ hält er mehr für eine „Frage der Journalisten“. Weshalb er sich auch künftig für die Disziplin Rudern nicht mehr ausrechnet: „Was haben wir schon zu bieten?“ Sponsoren wollen sichere Erfolge über Jahre und die möglichst telegen. Und Gesichter. Bei neun Personen, die zudem noch wechseln können, ist da Vermarktung kaum möglich.
Den Trainer hat der Alltag längst eingeholt, und die Arbeit ist ihm nach dem großen Erfolg „eher schwerer“ geworden. Vordere Plätze werden auch weiterhin erwartet, selbst jetzt, wo die neue Mannschaft „im Vergleich mit der professionellen Vorbereitung auf Seoul beinahe nebenbei“ trainiert. Die Sportler wohnen ja wieder in verschiedenen Städten, und wenn die Mannschaft im Vorjahr „ungefähr 80 Prozent“ zusammen trainierte, tut sie das derzeit bei geringerem Zeitaufwand gerade mal zur Hälfte.
Nichts Positives? Doch: „Der Mythos vom Adam-Achter der 60er Jahre ist geknackt.“ Danach nämlich galt es fast als Strafe, im erfolglosen Achter zu sitzen; das Boot taugte mehr für spöttische Sprüche als für Medaillen. Jetzt plötzlich macht Dr. Hartmann einen „Run“ auf die Prestigebootsklasse aus.
DDR mit Superschiff
Auch die DDR, vermutet der Bundestrainer, könnte nun „vielleicht umdenken“. Bisher verfuhr die weltbeste Rudernation nach dem Prinzip „möglichst viele Medaillen“: die Besten in die Vierer, die Zweier, den Rest dann ins Großboot. Doch für die Regatta am vergangenen Wochenende in Duisburg wurde erstmals - das Imperium schlägt zurück - „ein Superschiff“ (Holtmeyer) gemeldet.
Die Goldruderer Schultz und Mellinghaus ficht das erst mal weiter nicht an. Alle vierzehn Tage - dazwischen trainieren sie alleine - setzen sie am Wochenende ihren Zweier ins Wasser des Dortmund-Ems-Kanals und ziehen gleichmäßig ihre Bahn, zweimal 18 Kilometer pro Tag. Ungerührt lassen sie den neuen Achter passieren, der wie immer verfolgt wird vom kleinen Motorboot Holtmeyers. Der läßt kurze Strecken im Renntempo fahren und Starts üben: „Etes-vous prets partez!“, tönen die Kommandos blechern aus dem Megaphon. Die Zeiten sind okay, aber „im Mittelschiff ist zuviel Unruhe“. Und einer zieht „am Schluß den Schlag nicht ganz durch“.
Ein wunderschöner Sonnentag. Sattes Grün an den Ufern des Kanals, die Wärme hat eine Menge Ausflügler angelockt. „Wenn ich da einen Angler mit Pulle seh'“, sinniert Eckard Schultz, „frag‘ ich mich doch, wer von uns mehr Lebensqualität hat.“ Weshalb er Mellinghaus‘ Antrag nach einer weiteren Trainingseinheit am Nachmittag dankend ablehnt: „Eine Stunde aufs Ohr und dann ab in den Biergarten.“
Das ist ein kleiner nacholympischer Luxus von Ruderern im Ruhejahr. Und ab Oktober werden auch die Gewinner von Seoul wieder am „Run“ auf den Achter teilnehmen und sich ordentlich in die Riemen legen.
Unter 400 Watt am Ergometer geht dann nichts mehr.
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