: Bush bringt Kohl in die Zwickmühle
US-Vorschläge auf Nato-Gipfel sollen Bonn zur Aufgabe der Forderung nach baldigen Kurzstreckenraketen-Verhandlungen bewegen / Vereinbarungen in Wien zwar in sechs bis acht Monaten möglich / Kurzstreckenraketen-Verhandlungen erst kurz vor Abschluß 1992/93 ■ Aus Brüssel Andreas Zumach
Um endlich gegenüber den Abrüstungsvorschlägen und -schritten Gorbatschows aus der Defensive zu kommen und um die Bundesregierung zur Abschwächung ihrer Haltung im Streit um atomare Kurzstreckenraketen zu bewegen, hat US -Bundespräsident Bush den Bündnispartnern beim Brüsseler Nato-Gipfel gestern neue Vorschläge für die Wiener Verhandlungen über die konventionellen Streitkräfte in Europa vorgelegt. Die amerikanischen und sowjetischen Land und Luftstreitkräfte in Europa sollen auf jeweils 275.000 Soldaten begrenzt werden. Das bedeutete den Abzug von 50.000 der derzeit 325.000 US-GIs in Westeuropa sowie die Verringerung der 600.000 sowjetischen Soldaten in Osteuropa um 325.000. Die abgezogenen Verbände sollen aufgelöst werden.
Die USA wollen nun auch auf die Forderung der Warschauer Vertragsstaaten nach sofortiger Einbeziehung von landgestützten Kampfflugzeugen und Hubschraubern in die Wiener Verhandlungen eingehen. Bush strebt neue Obergrenzen bei diesen Waffensystemen an, die 15 Prozent unter dem derzeitigen Nato-Niveau liegen sollen. Auch dieser Vorschlag erfordert nach dem von der Nato vorgelegten Kräftevergleich eine weit größere Reduzierung auf sowjetischer Seite. Langstreckenbomber vom Typ der in Großbritannien stationierten F111 oder der französischen Mirage2.000 sollen nach Bushs Vorstellungen jedoch außen vor bleiben. Auf der Basis dieser Vorschläge wie der schon auf dem Wiener Tisch liegenden Nato-Verhandlungsposition über die Reduzierung von Panzern (auf je 20.000), Artilleriegranaten (je 16.500 bis 24.000) und Infanteriefahrzeugen (je 28.000) solle binnen sechs bis zwölf Monaten in Wien eine Vereinbarung mit den Warschauer Vertragsstaaten getroffen werden. Diese Vereinbarung, so Bush, soll dann bis 1992, spätestens 93 umgesetzt werden. Die von der Bundesregierung dringend geforderten Verhandlungen über atomare Kurzstreckenraketen könnten beginnen, bevor die Umsetzung eines Wiener Vertrages über die konventionellen Streitkräfte völlig abgeschlossen ist, erklärte der US-Präsident. Mit seinem Vorschlag hofft der Präsident die Bundesregierung zur Aufgabe ihrer Forderung nach baldigen Kurzstreckenverhandlungen, parallel zu den Wiener Gesprächen, bewegen zu können.
Ob sich Bonn darauf einläßt und damit hinter das am Sonntag von der FDP noch einmal deutlich bekräftigte Koalitionspapier vom 27.April 1987 zurückgeht, war gestern noch völlig offen. Zwar begrüßte Kanzler Kohl Bushs Initiative in allgemeiner Form. Verzichtet Bonn auf seine Forderung nach baldigen Verhandlungen über die Kurzstreckenwaffen, wäre Kohl dem „goodwill“ der Amerikaner ohne eigene Druckmittel ausgeliefert. Der Kanzler Fortsetzung auf Seite 2
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vermied jedoch zunächst jegliche konkrete Äußerung zur Kurzstreckenproblematik.
Die britische Premierministerin hingegen wandte sich erneut gegen die „Möglichkeit einer dritten Nullösung“. Dies habe auch Kohl bei ihrem Treffen in Deidesheim im April erklärt. Thatcher lehnte außerdem die Aufnahme von Verhandlungen über atomare Kurzstreckenraketen ab, „bevor die konventionellen Streitkräfte substantiell reduziert worden sind“. Außerdem forderte sie, daß der Gipfel eine „ausdrückliche Unterstützung für Erforschung und Entwicklung einer Lance -Nachfolgerakete durch die USA“ ausspräche.
Nach der ersten Plenarsitzung gestern morgen wurde eine Arbeitsgruppe hochrangiger Diplomaten und Experten zur Formulierung eines gemeinsamen Textes in dieser Frage eingesetzt. Am Rande des
Gipfels gab es Spekulationen darüber, daß die USA ihre Vorschläge, über die die Verbündeten bis zum Wochenende nicht informiert worden waren, vorab mit der UdSSR abgeklärt hat. Die Sowjetunion hat bislang den Abschluß eines Vertrags in Wien bis 1997 für realistisch erklärt. Die Bundesregierung dürfte zu einem Kompromiß in der Kurzstreckenfrage erst nach einem Signal aus Moskau bereit sei, wonach die UdSSR sich auf die gestern vorgelegten Vorschläge und zeitlichen Vorstellungen der USA einläßt.
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