: Standbein und Spielbein
■ Gorbatschows Rede versöhnt, doch fehlt eine neue Wirtschaftspolitik
Das war wieder der alte Gorbatschow, der da auf dem Kongreß der Volksdeputierten alle Register zog und Impulse für die Reformen geben wollte. Seine autoritäre Kongreßregie der ersten Tage jedenfalls, die von anderen Reformern schon „als schändlichster Akt seiner politischen Biographie“ gewertet wurde, ist mit seiner Rede in den Hintergrund gedrängt. Nachdem Boris Jelzin nun doch - pikanterweise unter Bruch der bisherigen Geschäftsordnung - in den Obersten Sowjet von oben (autoritär) hineingelobt wurde und sich sogar sein Intimfeind Ligatschow versöhnlich zeigte, deutet alles darauf hin, daß die Führung zerschlagenes Porzellan noch zu kitten weiß.
Stichworte für eine sachorientierte Diskussion hat Gorbatschow in seiner Rede endlich doch gegeben. Wenn er das Wahlsystem aufs Korn nimmt, um es für die kommenden Wahlen der Obersten Sowjets der Republiken zu demokratisieren, greift er die Forderungen von unten auf. Denn daß die Kandidaten ein Unmenge von Unterschriften für ihre Kandidatur vorlegen müssen, daß Wahlkommissionen nochmals die Kandidaten aussieben, daß die „gesellschaftlichen Organisationen“ und die Partei eigene Kandidaten in die staatlichen Gremien ohne Wählervotum schicken können, ist in den baltischen Ländern schon reformiert und anderswo ein Ärgernis.
Auch was Gorbatschow über die Rechtsreform und vor allem über die institutionelle Absicherung der Perestroika zu sagen hatte, stimmt hoffnungsvoll. Das Kernstück der Reform, die der Wirtschaft nämlich, bleibt jedoch auch nach der Rede unberührt. Zwar klingt es gut, wenn für die Dezentralisierung der Entscheidungen grünes Licht gegeben wird. Gerade in den kleineren Republiken bringt die „eigene Rechnungsführung“ mehr Freiheit vor der allmächtigen Moskauer Zentralbehörde. Doch in Rußland selbst, der größten Republik, die von Europa bis Sibirien reicht, ist nicht einmal das verbürgt. Wenn jetzt, wie Gorbatschow angedeutet hat, die Preisreform verschoben wird um soziale Konflikte zu vermeiden, mag dies der Staatsführung kurzfristig Luft verschaffen. Doch ohne Preisreform ist eine durchgreifende Wirtschaftsreform nicht durchzuführen. Weiterhin wird die Perestroika zwar ein Spielbein haben, das Standbein aber fehlen.
Erich Rathfelder
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