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„Diese Delegationen sind einem Diktat unterworfen“

■ Interview mit Oleg Rumjanzew, Politologe aus Moskau, Spezialist für Zeitgeschichte der Länder Ostmitteleuropas, zum Kongreß der Volksdeputierten / Er arbeitet als Experte im Stab der Reformabgeordneten Bogomolow und Stankewitsch

taz: Wie konnte es geschehen, daß die Kongreßdelegierten, die von der überwältigenden Mehrheit der Moskauer als ihre Vertreter gewählt und gewünscht wurden, eine so vernichtende Niederlage erlitten?

Rumjanzew: Wir haben uns sehr ernsthaft auf den jetzigen Kongreß vorbereitet und uns mit Materialien versorgt. Ich meine damit die Moskauer Gruppe der Reformdelegierten um den Ökonomen Popow, den Historiker Afanasjew, die Wissenschaftler Stankewitsch, Bogomolow und andere wie Fjodorow und Jemeljanow, und außerdem die wissenschaftlichen Experten, die sich diesen Leuten zur Verfügung gestellt haben. Es ist uns dabei aber ein entscheidender Fehler unterlaufen: Diese Delegierten sind Intellektuelle, die nicht gewohnt sind, einen organisierten politischen Kampf zu führen. Im Unterschied zu den Mitgliedern der informellen Gruppen, die in den letzten beiden Jahren schon dazugelernt haben, glauben diese Leute noch immer, es sei genug, einen klugen Artikel zu schreiben oder eine schlaue Rede zu halten, um politische Wirkung zu erzielen. Aber, Freundchen, so geht es leider nicht! Man hätte die eigenen Anträge vervielfältigen müssen und an jeden einzelnen der Provinzdelegierten herantreten, ihm Achtung erweisen und ihn in die eigenen Pläne einbeziehen müssen, d.h. um den Kongreß kämpfen! In Sibirien, Turkmenien, Kasachstan leben die Leute nicht nur in einem politischen Steinzeitalter, sondern sind außerdem noch einem enormen Druck der ersten Parteisekretäre ausgesetzt. Diese sitzen als sogenannte „Gäste“ auf dem Balkon im Saal und kontrollieren, wie ihre Schäfchen unten abstimmen. Das ist der reinste Horror! Diese Delegationen sind einem Diktat unterworfen, und einigen hat man schon zu verstehen gegeben, daß nach dem Kongreß ihre persönlichen Parteiakten überprüft werden. Direkt vor dem Kongreß haben lokale Plenen stattgefunden, auf denen die Delegationen auf bestimmte Positionen festgenagelt wurden.

Meinen Sie, daß Gorbatschow an dieser Art von Vorbereitungen Anteil hat?

Über ihn mache ich mir keinerlei Illusionen. Ich halte ihn für einen Mann des Apparats, der eine rein technische Modernisierung des Landes anstrebt. Nicht zufällig hat sein Stellvertreter Lukjanow vor zwei Tagen auf dem Kongreß gesagt, daß allein die Partei die Perestroika durchführen könne. Das ist ein ganz traditioneller bolschewistischer Monopolanspruch. Aus Angst, daß die Moskauer Delegiertengruppe sich zu einer Fraktion zusammenschließen und die Führung auf dem Kongreß an sich reißen könnte, hat gerade Gorbatschow schon am ersten Tag unsere Verfassung verletzt: Er hat ohne gewählt zu sein den Vorsitz des Kongresses usurpiert, indem er die Leute im Saal unter Druck setzt. Es ist übrigens ein ganz wichtiger Unterschied, daß Gorbatschow sein Auftreten im Hinblick auf den Saal ausgezeichnet und bisweilen sehr frech berechnen kann und sich dabei um die Wirkung auf die Wähler nicht schert, während unsere Reformdelegierten sich modern vorkamen, als sie eine fernsehgerechte Taktik ausarbeiteten. Tatsächlich ist es dann so gelaufen, daß Gorbatschow vor allem den Saal gesteuert hat, während unsere Delegierten das Verständnis der Fernsehzuschauer, zumindest in den Großstädten, auf ihrer Seite hatten.

Mit welchen Mitteln hat Gorbatschow diesen Effekt erreicht?

Indem er schon am ersten Tag gegen die Verfassung verstieß und den Vorsitz des Kongresses usurpierte. Leute wie Sacharow und Popow wußten schon, weshalb sie zu Beginn forderten, die Wahl des Vorsitzenden und andere Wahlgänge erst nach einer ausführlichen Diskussion über den Vortrag des Generalsekretärs vorzunehmen. Dies hätte den Delegierten die Gelegenheit gegeben, sich zu profilieren, die gegenseitigen Positionen kennenzulernen und aus der eigenen Mitte kompetent auszuwählen. Das hätte bedeutet, dem Kongreß wirklich die Macht in die Hand zu geben, und gerade dies hat Gorbatschow verhindert. Sacharow hat vorgestern fünf Experten, darunter auch mich, gebeten, seinen Vorschlag in Gesetzesform zu kleiden. So hätte man ihn als Dekret dem Kongreß zur Abstimmung vorsetzen können. Aber leider ist ihm das nicht schon vor zehn Tagen eingefallen. Einer der typischen vorhin erwähnten Fehler unserer Intellektuellen.

Mit welcher Begründung hat denn Gorbatschow den Vorschlag abgeschmettert?

Er hat so ungefähr gesagt: „Aber Genossen, das haben wir doch schon gestern auf der Versammlung der Delegationsleiter vorentschieden!“ Tatsächlich hat es eine solche Versammlung gegeben. Nur leider gibt es in unserer Verfassung keinen Begriff, der einem solchen Organ auch nur nahe kommt. Nur ein Mann, der Leningrader Abgeordnete Lewascho W., ist in diesem Moment aufgestanden und hat darauf hingewiesen, daß unsere Konstitution verletzt wird. Dies beweist ein weiteres Mal, daß wir nicht in einem Rechtsstaat, sondern immer noch im halbasiatischen alten Rußland leben. Für die Delegierten aus Sibirien, Turkestan und Kasachstan erschienen Sacharow und Popow in diesem Augenblick nicht als Garanten der Demokratie. Da diese Leute an eine patriarchalische Ordnung gewohnt sind, erblicken sie in ihnen lediglich Störenfriede, die den Kongreß verzögern, weil sie unbedingt noch ein paar individuelle Ideen anbringen müssen, wo doch schon alles entschieden ist.

Was waren die weiteren Folgen der frühzeitigen Entscheidung über den Vorsitz?

Die Folgen waren, daß die großen Gegensätze im Lande während der eigentlichen Diskussionen unter den Teppich gekehrt wurden und nur noch während der Geschäftsordnungsdebatten aufflackerten, wo sie eigentlich nicht hingehörten. Ich meine Gegensätze wie Armenien -Aserbeidschan, Provinz-Moskau, Apparat und außerhalb des Apparats Stehende.

Wie kamen die Listenplätze bei der Wahl zum Obersten Sowjet zustande?

Die Kandidatenlisten wurden im ZK ausgearbeitet. Dabei wurde den Abstimmungen schon von vorneherein die Möglichkeit einer echten Alternative genommen, weil jede Delegation eine ganz beschränkte Anzahl von Kandidaten aus ihrer Mitte vorbestimmen mußte. Deshalb hat die Moskauer Gruppe bewußt durchgekämpft, daß fast alle für den Obersten Sowjet kandidierten, obwohl wir wußten, daß dieser Kongreß, wenn er unter soviel Moskauer Delegierten wählen kann, weder Tatjana Saslawskaja noch Andrej Sacharow eine Chance geben wird.

Ist das nicht ein bißchen sehr heroisch?

Wir sind nicht der Meinung, daß man die Demokratie mit undemokratischen Mitteln erreichen kann.

Wie sehen Sie denn die politischen Folgen des ganzen Geschehens? Mir scheint in Moskau zur Zeit die Enttäuschung lähmend auf den Menschen zu lasten.

Natürlich gibt es Leute, die resignieren und apathisch werden. Ich denke aber doch, daß unsere Abgeordneten diesmal das Spiel des politischen Kampfes lernen werden. Außerdem ist die Wut gerade in der Arbeiterschaft sehr groß und das Wort „Proteststreik“ ist in den Moskauer Fabriken in diesen Tagen oft zu hören.

Interview: Barbara Kerneck

(Moskau)

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