: Land unter Asphalt
Autobahnbau, Mülldeponien und Wohnungsnot erzürnen die belgischen UmweltschützerInnen / Die Bewegung ist in Flandern stärker als in Wallonien / Ein nationales Netz ist noch nicht entstanden ■ Von J.Bertrand & P.Vanhoutte
Fortschrittsgläubigkeit hatte in Belgien seit jeher eine eigene Dimension. Zu klein ist das Land, um im Wettbewerb der Großen bestehen zu können. Aber Furcht vor den Großen hatten Wallonen und Flamen fast nie. Man vertraut auf die eigenen Kapazitäten und glaubt an die ökonomische Schubkraft im Lande. So bescherten die „goldenen Sechziger“ dem Königreich Belgien etliche für Industrie und Staat profitable Projekte. Um im internationalen Wettbewerb bestehen zu können und um Anschluß an die offenen Weltmeere zu finden, wurden die drei Seehäfen Antwerpen, Gent und Zeebrugge gebaut.
Neben dem Bau dieser Hafenanlagen uferte der Straßenbau in den sechziger Jahren völlig aus. Die systematische Asphaltierung Belgiens führte dazu, daß das Königreich neben dem niederländischen Nachbarn mittlerweile über das dichteste Autobahnnetz in Europa verfügt. Mit der Begründung, man benötige die mitunter vierspurigen Asphaltpisten, „um die ökonomisch schwächeren Regionen mit den weiter entwickelten“ zu vernetzen, versuchten Unternehmer und Regierungsverantwortliche, aufgebrachten UmweltschützerInnen den Wind aus den „grünen“ Segeln zu nehmen.
Ein wichtiges Kapitel in der Geschichte der belgischen Umweltschutzbewegung ist der Konflikt um den Bau der Autobahn A24 in Limburg in den siebziger Jahren. Mehr als ein Jahrzehnt beschäftigte der Kampf der UmweltschützerInnen gegen die A24 die limburgische Öffentlichkeit.
Bündnis gegen Autobahnbau
Die A24 sollte die niederländische Philips-Metropole Eindhoven mit Lüttich verbinden. Darüber hinaus sollte sie das letzte Verbindungsstück eines umfangreicheren Autobahnnetzes in der grünen Provinz Limburg werden.
Erst der politische Druck von außen führte zu einem Anwachsen der kritischen Stimmen in den Reihen der oppositionellen flämischen Sozialisten. Lokale Aktionsgruppen gegen den Bau der A24 führten den Kampf mit Unterstützung der betroffenen Bevölkerung. Insbesondere Landwirte, die von Zwangsenteignungen bedroht waren, unterstützten den Widerstand.
Die politische Gallionsfigur der UmweltschützerInnen im Kampf gegen den Autobahnbau war der Priester und jetzige EP -Abgeordnete Jef Ulburghs, der im Rahmen der Aktivitäten der „Wereldschoolen“, die in erster Linie in den Arbeitersiedlungen der limburgischen Bergbaugebiete politisch verwurzelt waren, bereits frühzeitig gegen die A24 mobil machte. Höhepunkt der Aktivitäten war eine Demonstration in der Provinzhauptstadt Hasselt mit der anschließenden symbolischen Besetzung einer Baustelle im nordlimburgischen Overpelt. Der öffentliche Druck zeigte Wirkung: das Projekt wurde gestoppt. In Verantwortung des mittlerweile mit einem Sozialisten besetzten zuständigen Ministeriums wurden die Pläne auf Eis gelegt.
Fast zehn Jahre später sorgten aber gerade die Sozialisten für eine Renaissance des A24-Projekts. Kurios an dem neuen alten Vorhaben, das aufgrund der sich weiter verschlechternden Arbeitsmarktlage aus den Schubladen hervorgezaubert wurde, ist die Rolle, die ein ehemaliger A24 -Gegner in dieser Wirtschaftstragödie spielt: Johan Sauwens ist aufgrund seines Engagements gegen das umstrittene Autobahnprojekt Ende der siebziger Jahre ins regionale Parlament gewählt worden. Heute ist Sauwens flämischer Minister für das Bauwesen und damit Mitentscheider über die Zukunft der A24.
Bereits sehr früh stellte die belgische Umweltschutzbewegung eine Querverbindung zwischen Umwelt und genereller Lebensqualität her, wozu auch der Bereich Wohnen gehörte.
Wohnraumvernichtung für die Europametropole
Das Thema Wohnen und Umwelt drang in den siebziger Jahren schlagartig ins öffentliche Bewußtsein. Zwischen 1965 und 1975 gab es einen bis zu diesem Zeitpunkt nicht gekannten Bauboom in Belgiens Großstädten. In Brüssel, Antwerpen, Gent und Lüttich, um nur einige Städte zu nennen, wurden ganze Stadtteile dem Erdboden gleichgemacht, billiger Wohnraum mußte stählernen Büro- und Verwaltungskomplexen weichen. Am dramatischsten war diese Entwicklung in Belgiens Europametropole Brüssel. Spekulanten, Immobilienmakler und Bauunternehmer erwirtschafteten bei ihrem Sanierungsfeldzug im Leopoldsviertel, den Marollen und der Gegend um den Brüsseler Nordbahnhof üppige Gewinne.
Für die belgische Umweltbewegung hatte der Konflikt mit den sanierungswütigen Bauunternehmen enorme Initialwirkung. Viele AktivistInnen mußten ihre ersten politischen Ohnmachtserfahrungen verarbeiten.
Im Gegensatz zur Bundesrepublik und den Niederlanden waren die belgischen AtomkraftgegnerInnen nicht zu einer starken und breiten Bewegung zusammengewachsen. Die atomaren Brennpunkte Belgiens - Mol, Doel, Tihange und Chooz gerieten zwar gelegentlich ins Blickfeld belgischer Aktionsgruppen, doch kamen die entscheidenden Impulse für den Widerstand von niederländischen und bundesdeutschen AKW -GegnerInnen.
AKW-Widerstand von außen
Bezeichnenderweise waren die führenden Köpfe des „Vlaams Aktiekomitee tegen Kernenergie“ (VAKS) mit Sitz in Antwerpen niederländische StaatsbürgerInnen. Die Nachbarn jenseits der belgischen Grenze pilgerten häufiger und zahlreicher als die BelgierInnen selbst zu den atomaren Standorten Doel und Mol.
Die wallonische sozialistische Gewerkschaft F.G.T.B. setzte sich energisch für den weiteren Ausbau des Brüsseler Atomprogramms ein. Ihr Hauptargument: Sicherung von Arbeitsplätzen durch Nutzung der Atomenergie speziell bei ACEC-Charleroi. Auf flämischer Gewerkschaftsseite ist man genau vom Gegenteil überzeugt. Das flämische Pendant ABVV ist ebenso wie die flämischen Sozialisten gegen einen weiteren Ausbau des AKW-Programms im Königreich Belgien und kommt damit den Forderungen der belgischen AKW-GegnerInnen weit entgegen. Grundsätzlich bleiben aber die Kommunikationsschwierigkeiten zwischen Ökologiebewegung und Gewerkschaften politischer Alltag.
Die Zentren der belgischen Aktionsgruppen verteilen sich, ohne jedoch miteinander vernetzt zu sein, über das ganze Königreich: Ruimte in Ost- und Westflandern, Wereldscholen -Gemeenschap en Ontwikkeling in Flandern und Brüssel und Elker-ik in Gent, Antwerpen und Turnhout, um nur einige zu nennen. Diese Initiativen wurden ursprünglich von Leuten aus der „Dritte-Welt-Bewegung“ gegründet, die sowohl mit der Regierungspolitik als auch mit den Vorstellungen der Kirche nicht einverstanden waren. Im Unterschied zu Wallonien organisierten sich die neuen sozialen Bewegungen in Flandern zum großen Teil außerhalb der kirchlichen Institutionen, die dem Engagement der Basis mißtrauisch gegenüberstanden. In einigen Fällen griff die Kirche zu unpopulären Maßnahmen, indem sie MitarbeiterInnen, die sich den Initiativen der Bewegung anschlossen, fristlos kündigte.
Einige AktivistInnen der Umweltbewegung befürworteten eine basissozialistische Variante, die der Bewegung als Integrationszentrum dienen und der sich alle Gruppen anschließen sollten, um vereint Druck auf die Parteien ausüben zu können. Andere sprachen sich für eine Kooperation mit Gewerkschaften und Bildungseinrichtungen aus, deren Aktive sich den etablierten Parteien anschließen sollten, um dort die Standpunkte der Bewegung zu vertreten. Eine dritte Gruppe schließlich legte großen Wert auf Unabhängigkeit gegenüber Parteien und Gewerkschaften und unterstützte eine Konzeption, die sich an den Forderungen der Betroffenen orientieren sollte und diese zur Grundlage einer im wesentlichen von den Basisorganisationen durchgeführte Politik zu machen. Die kontrovers geführten Diskussionen führten letztlich zu keinem Ergebnis.
Erosion in der Umweltbewegung
Aufgrund der fehlenden Einigkeit setzte sich der Erosionsprozeß innerhalb der Bewegung fort. Die Aktiven waren neben ihrer praktischen Arbeit an der Basis zu stark an ihre Verwaltungstätigkeiten und Verhandlungen mit den Behörden gebunden. Vereinzelt durchgeführte Aktionen blieben nunmehr in der Verantwortung von kleinen, unabhängigen Bildungseinrichtungen, Jugenddiensten und Nachbarschaftshilfevereinen. Einige MitstreiterInnen schlossen sich kleinen, vornehmlich dem linken Spektrum zugeordneten Parteien an oder suchten ihre politische Heimat bei den Sozialisten.
Ende der siebziger Jahre versuchte gerade die Sozialistische Partei, ParteigenossInnen, progressive Kräfte aus dem Umfeld der christlichen Arbeitnehmerbewegung und Aktive aus den Basisorganisationen an einen Tisch zu bringen. 1982 boten Sozialisten aus Genk einem unabhängigen Komitee der „Initiative Doorbraak“ (Durchbruch) einen sicheren Listenplatz bei den Gemeinderatswahlen an. Jef Ulburghs stellte sich daraufhin als Kandidat zur Verfügung und zog in den Gemeinderat ein. Zwei Jahre später bewarb sich Ulburghs auf der Liste der Sozialisten für ein Mandat im Europäischen Parlament und arbeitet seitdem als unabhängiger Abgeordneter in Straßburg und Brüssel.
Ökoparteien gewinnen Profil
Eine andere Umweltgruppe („Bond Beter Leefmilieu“) gelang es 1972 mit Hilfe ihrer Gefolgsleute in den Regierungsparteien, Einfluß auf die Regierungserklärung zu nehmen. Zum ersten Mal war offiziell von Umweltschutz die Rede: Umweltpolitik war seit diesem denkwürdigen Tag integraler Bestandteil des Ministeriums für Volksgesundheit und Familie; zwei Jahre später wurde sogar ein Staatssekretariat „Umwelt“ eingerichtet. Vielen UmweltschützerInnen reichte dieser relative Erfolg jedoch nicht aus. Ihr Hoffnungsträger wurde vor allem die Öko-Partei AGALEV. Als diese bei den Parlamentswahlen 1977 nur 0,3 Prozent der abgegebenen Stimmen auf sich vereinen konnte, sprachen viele von einem frühzeitigen Abschied der Umweltpartei. AGALEV ließ sich aber nicht entmutigen. 1981 konnte sie schließlich einen Sitz im belgischen Parlament gewinnen, und drei Jahre später wurde AGALEV-Kandidat Paul Staes ins Europäische Parlament gewählt.
In Wallonien konstituierte sich die grüne Partei (ECOLO), die in den letzten Jahren zunehmend an Profil gewinnen konnte. Die Bedeutung der wallonischen Grünen liegt weniger in den relativen Erfolgen bei Wahlen - so zog ECOLO mit einem Abgeordneten ins Europäische Parlament ein - als vielmehr am Sammlungscharakter der Partei, die es weitgehend geschafft hat, unzufriedene sozialistische Parteigänger und Teile der Aktiven aus den Basisorganisationen zu integrieren. Allerdings leidet das innerparteiliche Klima bis heute unter der Vielfalt der Strömungen, die eine einheitliche Zielrichtung erschwert. So kennt ECOLO die in der Bundesrepublik bekannten Flügelkämpfe zwischen Realos und Fundis zur Genüge, wobei sich mehr und mehr die Realos in dieser grünen Partei durchsetzen mit dem Ziel, Regierungsverantwortung zu übernehmen.
Währenddessen hat sich eine funktionsfähige wallonische Umweltbewegung nicht konstituieren können. Das lag im wesentlichen daran, daß abgesehen von einigen wenigen Ausnahmen keine sozialen Bewegungen existierten. Dem politisch links stehenden Parteienspektrum war es fast immer gelungen, die wichtigsten politischen Themen, die zu einem Erstarken einer sozialen Bewegung hätten führen können, frühzeitig zu besetzen. So ist es auch nicht verwunderlich, daß es selbst gegen das von WissenschaftlerInnen als umweltgefährdend erklärte „Train-a-grande-vitesse„-Projekt (TGV) keinen nennenswerten Widerstand gibt, obwohl die UmweltschützerInnen in Flandern bereits mit zahlreichen Informationskampagnen über die ökologischen Belastungen des Schnellzug-Projekts an die Öffentlichkeit getreten sind.
Belgiens UmweltschützerInnen hatten es seit jeher schwer. Gegen die mächtige Lobby der Industrie, gegen geschickte Schachzüge der Parteien und Gewerkschaften und schließlich gegen die oft einseitigen Direktiven der amtierenden Regierungen zeigten sie nur gelegentlich Krallen. Häufig genug versickerten die Widerstandsaktionen im Sande. Dennoch, die Proteste gegen Mülldeponien, Atomkraftwerke und umweltzerstörende Straßenbauprojekte waren stets zahlreich, konnten jedoch nur selten regional, geschweige denn national koordiniert werden. Zudem läßt sich nicht von der Hand weisen, daß die Flamen den Wallonen in puncto Umweltbewußtsein um einige Längen voraus waren und dies auch heute noch sind.
Belgien hat eine unabhängige Umweltbewegung nötiger als je zuvor. Mit der Errichtung des europäischen Binnemarktes Ende 1992 werden die Probleme gerade im Umweltbereich eher zu als abnehmen. Die Umweltbewegung wird aber nur dann das von vielen prophezeite ökologische Dumping ansatzweise eindämmen können, wenn sie in der Lage ist, ihre vereinzelt durchgeführten Aktionen zu bündeln, wichtige Bündnispartner aus dem Parteien- und Gewerkschaftsspektrum in die Bewegung zu integrieren und ein programmatisches Gesamtkonzept zu entwickeln, dessen „Essentials“ vielen Gruppen die Mitarbeit ermöglichen.
Dieser und andere Beiträge unserer Serie erscheinen auch unter dem Titel „Natürlich Europa, 1992 - Chancen für die Natur“ im Volksblatt Verlag, Köln. 24,80 DM
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen