„Wir haben einen Schnitt gemacht. Wir führen keine 'Endkämpfe'“

■ Erklärung des in Celle inhaftierten Karl-Heinz Dellwo zum Abbruch des Hungerstreiks der RAF-Gefangenen

IM

Wenn wir diesen Kampf so fortgesetzt hätten, wären einzelne von uns inzwischen tot. Darauf waren - bis hin zu Kohl Teile der CDU/CSU aus. Durchgekommen wären wir trotzdem nicht. Wahrscheinlich hätten draußen einige sich an dieser Erfahrung dafür entschieden, offensiv ihren Bruch mit dem System zu machen. Das liegt an der politischen Dialektik. Mit dem Abbruch haben wir für uns die politische Ebene gehalten, auf der der Kampf um die Zusammenlegung weitergehen kann und wird, nachdem er in der konkreten Konfrontation politisch und so auch materiell festgefressen war.

Jetzt wäre es nur eine quantitative Entwicklung gewesen: Als antagonistischer Kern sind wir schon lange da, und unsere Genossen draußen brauchen uns nicht als Motor für ihr Terrain. Sie sind es selber.

Was hier hinzukommen muß, ist der grundsätzliche Aufbruch auf breiter Basis von unten - gegen die Normalität des Systems, nicht mehr nur gegen dem scheinbaren Ausnahmezustand (letzteres ist eine strategische politische Schwäche fürs Ganze; wir sind oft darauf gestoßen). Die Verhältnisse müssen ganz umgewälzt werden.

Das ist die neue politische Qualität, um deren Inhalt und deren Verbreitung alle kämpfen müssen. Dazu sagen wir: Wir wollen die Auseinandersetzung mit allen. Dafür müssen wir nach einer gemeinsamen politischen Bestimmung suchen. Wir wollen es auch nicht anders. Möglich ist sie, weil der Gedanke an eine grundsätzliche Umkehrung von allem heute nicht mehr nur von einem revolutionären Kern zur Gesellschaft hin ausgeht. Er ist dort, wie stark oder schwach auch immer, bereits selber herangereift. Er kommt aus der Erfahrung, daß es in diesem System für nichts eine produktive Lösung gibt.

Die Mobilisierung war primär politisch. Sie wollte an einer zentralen gesellschaftlichen Frage der letzten Jahrzehnte etwas grundsätzlich Neues und stieß wieder auf das alte Machtverhältnis von oben. Da nicht durchzukommen liegt an der vorhandenen politischen Zerrissenheit. Die politische Weiterentwicklung hier, die Herstellung eines gemeinsamen politischen Verhältnisses gegen das System, braucht Zeit, und es kommt auch nicht nur aus den Erfahrungen mit dem Staat an uns. Weil jeder in seinem Bewußtwerdungsprozeß auch Subjekt sein muß, wollten wir keine Eskalation durchkämpfen, die viele als über sich hinweg erfahren, die so nur neu alte Trennungen reproduziert hätte.

Aber es ist auch so: Für uns ist diese ganze Knastphase politisch abgeschlossen. Wir sind da durch. Sie kriegen uns nicht klein. Wir sind ein zu diesem System antagonistisches politisches Kollektiv, das werden wir auch bleiben. Dieses Verhältnis untereinander steht und gibt den Raum, politisch weit darüber hinauszudenken.

Die Systemscheiße wird für uns nie mehr ein Ziel sein. Davon haben wir uns vollständig getrennt. Aber die Freiheit

-ein Gedanke, der in diesem Kampf sehr intensiv unter uns war. Das ist schon der Machtkampf, der in allem steckt. Für uns ist das viel mehr als die Bewegung aus dem Knast heraus. Es betrifft die ganze gesellschaftliche Entwicklung. Als historische Möglichkeit ist das heute schon spürbar. Und hierzu wollen wir die politische Ebene für alle offenhalten

-und klar, was zentral für jeden von uns ist: für das Leben unserer Genossen darin.

Es gibt Situationen, da höhlt die Verlängerung einer ausgeschöpften Kraft alles nur noch aus, auch die zur politischen Weiterbestimmung. Davor standen wir. So haben wir einen Schnitt gemacht. Wir führen keine „Endkämpfe“.

Überall sind die gemachten Erfahrungen jetzt zu realisieren und mit den anderen aus dieser Gesellschaft zu verbinden. Das eröffnet uns allen ganz neue Möglichkeiten. Indem sie wieder Tote bei uns wollten, kam die politische Realität in der BRD wieder zu sich. Sie sind damit nicht nur über uns, sondern auch über die linke, liberale und humanitäre Mobilisierung hinweggestiefelt. Hier wird es reaktionär, an Illusionen festzuhalten, die manche über diesen Staat noch produzieren. Dort wird das alles nur gewollt als Ornament an ihrem imperialistischen Betonblock. Im Ernstfall bricht immer das gleiche faschistische Verhältnis von oben nach unten durch. Aber auch nur solange, bis alle, die dagegen einen Widerspruch haben, sich ernst nehmen in ihren Absichten, Lernprozesse nicht verdrängen und nicht loslassen.

Zeitlich ein Zufall, aber auch kennzeichnend für das Ganze: Zum 40. Jahrestag der BRD-Gründung ziehen sie erneut in politischen Konflikten das militärische Verhältnis hoch. Immer dann, wenn eine grundsätzliche Entwicklung von unten nicht auszusitzen oder auszutrocknen ist. Dabei hatten sie genügend Raum für politische Lösungen. Wir haben ihn geöffnet - sie haben alles getan, um ihn wieder dichtzumachen. Das ist das reale Land BRD, nach innen und nach außen. In allen grundsätzlichen Fragen wird hier nicht politisch reagiert, sondern militärisch, offen oder in ihrer sozialpsychologischen Variante (...).

Realpolitisch ist es auf ihrer Seite völlig überzogen, an der Frage, ob sechs, acht oder meinetwegen zehn von uns zusammengelegt sind, den Staatsnotstand hochzuziehen. Aus der Zusammenlegung ist das nicht erklärbar. Es ist ihre Logik, die einer verselbständigten Konfrontation. Die wollen sie in dem Kalkül: In solchen Konfrontationen laufen keine Emanzipationsprozesse; sie werden zur Ohnmachtserfahrung. Für sich selber brauchen sie keine soziale Veränderung, aber die Macht. Das ist der Inhalt ihrer „harten Haltung“. Sie hat keinen sozialen Sinn. Das konnte jeder sehen, das entlarvt sich selbst. Wir steigen darauf nicht ein. Wir wollen eine revolutionäre Entwicklung. An ihrer ersten Stelle steht das Politische. Nur so können wir Subjekt in der Konfrontation bleiben. Darum kämpfen wir.

Die soziale Sinnlosigkeit ihrer Haltungen - und ihre Folge: die Zerstörung des Politischen - ist allerdings nicht in den Personen auf der politischen Bühne begründet. Das geht viel tiefer. Auch die, die dort schließlich zur kleinsten Kompromißlinie umschwenkten - sie waren es gegen eine gescheiterte Vergangenheit, nicht weil sie eine neue Zukunft eröffnen können. Der latente Antagonismus der bürgerlichen Gesellschaft bricht politisch an der Erfahrung auf, daß sich alles in diesem System immer brutaler auf die Zwangslogik des Kapitals reduziert. In dem Widerspruch, daß sie selber in ihren Handlungen daran gefesselt und so unfähig zu grundsätzlich neuen Lösungen sind, taktieren sie nur, während die Betonfraktion von vorneherein auf den offensiven Machterhalt, aufs demonstrative Niedertreten setzt.

Mit unserer Abbruchentscheidung haben wir für uns die politische Ebene gehalten und die Zwangslogik durchbrochen, die uns aufgepfropft werden sollte (...). In dem Halten und immer wieder neu Zurückführen auf den grundsätzlichen sozialen Sinn jeder Bestimmung liegt eine substantielle Erfahrung von dem, was Freiheit ist. (...)

An der Zusammenlegung geht trotzdem nichts vorbei. Wir brauchen sie als Bedingung für unsere Entwicklung, und sie ist auch sehr produktiv. Daß wir rechtzeitig unsere Streikbestimmung verändern konnten, lag auch an der Möglichkeit, diesmal miteinander telefonieren zu können. Zu wenig, um zufrieden zu sein, genug jedoch, um immer wieder neu denken zu können. Und wir haben erfahren, daß wir die ganzen Jahre trotz dieser Trennung auch zusammen sind. (...)

Dafür gibt es keinen Ersatz, und dafür werden wir, solange wir im Gefängnis sind, immer kämpfen. Aber politisch geht es auch schon um mehr: um die Freiheit der politischen und politisch gewordenen Gefangenen als von unten erkämpfter Teil eines grundsätzlichen gesellschaftlichen Umbruchs. Wir werden um ihn weiterkämpfen, wir wollen es mit vielen gemeinsam.

Celle, Mitte Mai 198

Karl-Heinz Dellw