Tennisbabel am Musketierplatz

Die Qual der Wahl bei den Offenen Französischen Tennismeisterschaften / 40.000 Bälle für 256 SpielerInnen  ■  Aus Paris Matti Lieske

Monica Selos war schwer beeindruckt. „Ich hatte keine Ahnung“, sprach die kesse Jugoslawin, die mit 15 bereits so hart schlägt wie Steffi Graf mit 14, nach ihrem ersten gewonnenen Match, „ich hatte keine Ahnung, daß es so sein würde. Hier gibt es so viele Leute, und die Stadien sind alle so groß.“ Die Musterschülerin aus der Tennisakademie des Nick Bollettieri in Florida, der auch Andre Agassi entsprungen ist, bestreitet ihr erstes Grand Slam-Turnier und hat allen Grund zu staunen.

Die ausgerechnet nach einem Kampfflieger benannte Tennisanlage „Roland Garros“ südlich des Pariser Bois de Boulogne, auf der 16 Plätze, die insgesamt 29.000 Zuschauern Platz bieten, zusammengepfercht sind, hat durchaus etwas Gigantisches. Allein der riesige Centre Court faßt 16.500 Menschen, der einer Stierkampfarena nachempfundene „Court 1“ noch einmal 4.500.

Die Erweiterungsarbeiten der letzten Jahre haben die Gesamtzuschauerzahl der „French Open“ von 70.000 im Jahre 1969 auf heute etwa 320.000 anschwellen lassen. Auf der Anlage herrscht emsiges Gewimmel wie in einem großen Kaufhaus am ersten Tag des Sommerschlußverkaufs. Nur daß die billigen Hosen, Blusen und Pullover durch Tennis, Tennis und nochmals Tennis ersetzt und zudem nicht billig sind.

Das Angebot der ersten Runden ist überwältigend. 128 Spielerinnen und 128 Spieler schlagen sich im Laufe des zweiwöchigen Turniers rund 40.000 Bälle der neugeschaffenen Marke „Roland Garros“ um die Ohren, von der Boris Becker sagt, es seien die schnellsten Bälle, mit denen er auf Sand je gespielt habe. 64 Spiele gibt es jeden Tag, außer Navratilowa, Evert, McEnroe ist die High Society des Filzballs voll vertreten - die Wahl fällt schwer.

Sollte man vielleicht auf Platz 1 einmal nachschauen, ob Andre Agassi mittlerweile das Lachen vergangen ist, oder lieber zum letzten Mal den starken linken Arm des Guillermo Vilas bewundern? Wäre es möglicherweise interessanter, auf Platz 10 dabeizusein, wie das fluch- und ballgewandte italienische Energiebündel Sandra Cecchini an der wienerischen Gleichmütigkeit der Barbara Paulus abprallt, oder wäre es doch lohnender, dem 17jährigen Michael Chang, neuestes US-Wunderkind, auf die Finger zu sehen?

Zur selben Zeit vollführt besagte Monica Selos unter dem furchterregenden Gebrüll, das alle Bollettieri-Zöglinge beherrschen, wuchtige Grundlinienschläge und empfiehlt sich mit ihren Urschreien für eine zweite Karriere als Ausbilderin in West Point. Platz 11: Senkrechtstarter Mancini, gefolgt von Spaniens Hoffnung Arantxa Sanchez. Zwischendurch Lendl, Becker, Perez-Roldan, und wäre nicht eine Verletzung des Spaniers dazwischengekommen, gäbe es auf einem unscheinbaren Nebenplatz noch ein Match, das jedem Grand-Prix-Turnier auf Sand ein würdiges Finale wäre: Emilio Sanchez - Andrei Chesnokov.

Viele Zuschauer kapitulieren schlicht vor der Fülle der Möglichkeiten in diesem Tennis-Babel. Sie schlendern umher und lassen sich von den zahlreichen Monitoren über die Spiele informieren. Auserwähltere Examplare der Gattung „Tennisfreak“ verlustieren sich in einem der exklusiven Sponsorenzelte, während das profane Volk sich im „Buffet de Roland Garros“ den Bauch vollschlägt, wo es kleine Stückchen Pizza schon ab sieben Mark gibt. Andere belagern die Boutiquen der Sportartikelhersteller, lauern an dem Spalier, durch das die Akteure auf die Anlage geschleust werden, auf Autogramme oder lassen sich auf dem runden „Platz der Musketiere “ nieder, der keineswegs nach den Florettisten um d'Artagnan benannt ist, sondern nach den vier „Musketieren“ des französischen Tennis, die 1927 den Davis Cup gewannen: Jacques Brugnon, Henri Cochet, Joan Borotra und Rene Lacoste, der Erfinder des Krokodils.

Die einzelnen Stadien sind dennoch gut besetzt, jedes Match findet seine Zuschauer. Doch wie die Entscheidung auch ausfällt, irgendeine Sensation wird immer verpaßt, an denen mangelt es nicht. „Es ist sehr schwer geworden“, urteilt der Schwede Mats Wilander, „es gibt heute so viele Spieler, die wirklich gut sind, aber keine großen Namen haben.“ Die erste Runde ist für die Topspieler längst kein Ruhekissen mehr, wie neben Vorjahresfinalistin Natalia Zvereva (6:3, 6:7, 2:6 gegen Raffaella Reggi) und Miloslav Mecir, der an dem einheimischen Kraftbolzen Thierry Tulasne scheiterte, vor allem der Liebling der Pariser Yannick Noah schmerzlich erfahren mußte.

Noah hatte sich nach einer Verletzung nur eine Woche auf das Turnier vorbereitet und gehofft, sich „während der ersten Runden langsam einspielen zu können“. Doch auch die frenetischen Anfeuerungsorgien konnten Noahs Rückhand gegen den Brasilianer Mattar nicht aufpäppeln, sein Urlaub beginnt nun erheblich früher als geplant.

Während Graf, Sabatini, Edberg und Becker mühelos die zweite Runde überstanden, erwischte es dort einen zweiten Publikumsliebling: Jimmy Connors. Mit dem 14 Jahre jüngeren Jay Berger lieferte sich der 36jährige Connors ein rasantes, hochklassiges Match über mehr als viereinhalb Stunden, an dessen Ende nicht etwa Connors, sondern Berger Wadenkrämpfe bekam. „Wenn es einen fünften Satz gegeben hätte, hätte man uns wahrscheinlich beide vom Platz tragen müssen“, meinte Berger nach dem Match. Mit etwas Glück konnte der flinke 29. der Weltrangliste, der die unmöglichsten Bälle erlief und zurückschlug, den vierten Satz jedoch gewinnen und siegte 4:6, 6:3, 7:5, 7:5.

Connors hat es trotzdem Spaß gemacht: „Ein solches Match gefällt mir. Ich gehe raus und gebe mein Bestes. Wenn das nicht gut genug ist, was soll sein? Schließlich werde ich ja für alles bezahlt, was ich da unten tue.“ Mit 6.421 Dollar exakt. Da kann der künftige Sieger allerdings nur lachen. Der bekommt 291.752 Dollar.