: Kanzler-Worte im Senioren-Ställchen
■ Bundeskohl-Auftritt auf dem Domshof / CDU-Wahlkampfbühne auf Wurfentfernung vor BremerInnen geschützt
Wäre da nicht der überlebens große Kohl über der Bühne gewesen, man hätte denken können, das Seniorenkränzchen „Walzerkönig“ habe seinen Nachmittagsausflug zu Kaffee und Kuchen mitten auf den Bremer Domshof verlegt. Knapp 300 grauhaarige Herren und Damen lauschten gestern nachmittag, fünf Uhr, friedlich dem Bremer Polizeiblasorchester. Auffällig nur die zahlreichen Mannschaftswagen von Polizei und Bundesgrenzschutz in den Seitenstraßen und die vielen Männer mit piepsenden Funkgeräten in der Jacke, die am rot-weißen Gitter patroullierten, in dem es sich der Altenverein gemütlich gemacht hatte.
Erst um fünf nach fünf fanden sich die Fronten. Ein schlagkräftiger Vortrupp der Marxistischen Gruppe errichtete ihr rotes Transparent zwischen Dom und Podium. „Rüstungsschmiede Bremen grüßt Rüstungskanzler Kohl“ stand in zackigen gelben
Lettern darauf. Und der Altenclub im Gitter spendete Applaus. Der Kanzler war im Panzerwagen vorgefahren.
Schon nach den ersten Sätzen seiner Bremer Wahlkampfrede war die Abstimmung entschieden: Den 300 älteren CDU-Fans standen hinter dem Gitter rund 2.000 BremerInnen gegenüber, von denen sich einige hundert mit Trillerpfeifen, Birnen und bunten Gesichtern als Gegendemonstranten zu erkennen gaben. Nach einer kühlen Begrüßung der „lieben Freunde der christlich demokratischen Union“ richtete sich Kohl direkt an seine „jungen Freunde, die späten Jünger des Marxismus“: „Wenn Sie ihr Plakat in der DDR zeigen würden, hätte ich dafür mehr Verständnis.“
Trotz ohrenzerreißender Lautstärke aus den dicken Boxen übertönte der trillernde Jubel hinter dem Gitter nicht nur den gesetzten Applaus darin. „Das ist der übli
che Straßenpöbel“ korrigierte Helmut Kohl nach der ersten viertel Stunde seiner Rede den ersten Eindruck. Und etwas später: „Das sind die Krankheitserscheinungen unserer Gesellschaft, die meisten ernähren sich ja nicht selbst, sie leben vom Vater oder vom Vater Staat.“ Die, die gemeint waren, mußten es schon geahnt haben. Sie schwenkten ihr Transparent. „Hier ist der Pöbel“ stand da darauf. Und als der Kanzler nach dem Abspielen des Deutschland-Lieds wieder in seinen Panzerwagen stieg, verabschiedeten sie ihn mit einem lauten „Nazis raus!“
Nur einer fehlte schon. Er war von Zivilpolizisten aus der
Menge heraus verhaftet worden. Eine Zitrone war aus seiner Gegend in Richtung Bühne geflogen. Schließlich fehlte auch auf dem Podium einer: Der frischgewählte Fraktions -Vorsitzende Peter Kudella wurde von seinem abgesetzten Vorgänger Metz vertreten.
Dabei wäre selbst der füllige Kudella nicht unter die Zitrone geraten. Der Abstand war großzügig kalkuliert, Eier, Bierdosen und Zitronen landeten auf der großen leeren Fläche, die zwischen Sperrgitter und Seniorenclub freigeblieben war. Trotzdem erregte die Werferei zeitweise mehr Aufmerksamkeit als die Kanzler-Worte. „Setzen Sie sich
doch bitte wieder hin“, bat Kohl die neugierigen Alten.
Doch schon lockte ein Begräbnis die Aufmerksamkeit wieder über die Sperrgitter. Die „Kohl-Politik“ wurde von der DFU im schwarzen Sarg feierlich vorbeigetragen, Motto: „Der Wende ein Ende.“
Für den Fall olympiareifer Weitwürfe hatten umsichtige Organisatoren unter dem überdachten Rednerpult zwei Plexiglas-Schilde und zwei Regenschirme bereitgelegt. Schließlich sollte der Pfälzer nicht im Bremer Regen stehen. Nicht nur das Seniorenkränzchen „Walzerkönig“ hätte es der Partei übelgenommen.
Dirk Asendorpf
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen