: Die Frau und die Sozialisten
■ In Ostberlin diskutierten Historiker von SPD und SED
Arno Widmann
Die Ostberliner Akademie der Wissenschaften und die Historische Kommission der SPD hatten vergangenen Dienstag und Mittwoch zu einer Konferenz geladen. Sie tagte in den Räumen der Akademie. Reinhold Begas‘ Schiller, der vor dem Schinkelschen Schauspielhaus steht, sah auf die Besucher der Tagung herab. Am Dienstag wurde über den gemeinsamen Ahnherrn, August Bebel, diskutiert, am Mittwoch ging es um Rolle der Massenbewegungen während der Novemberrevolution und ihre Bewertung.
Eindeutiges Ergebnis dieser Tagung: die Historiker beider Parteien sind sich näher als sie glaubten. Die SED-Vertreter sehen sich schon lange nicht mehr als Apologeten der KPD und auch die der SPD strecken ihre Decke nicht nach Noske. Die Fachleute waren sich einig, daß die Massen sich anders verhalten haben als es die Lehrbücher ihnen vorzuschreiben versuchten und als die Schulbücher es ihnen lange nachgerühmt hatten. Klaus Schönhoven, Universität Mannheim, erinnerte daran, daß auch während der Hochzeit der Revolution, in den Jahren 1918 bis 1920, nur 1,7 Millionen Arbeiter streikten, während 7,4 Millionen in ganz gewöhnlichen Tarifverhandlungen ohne Arbeitsniederlegungen eingespannt waren. Manfred Weißbecker, Universität Jena, betonte, daß die meisten Arbeiter nicht etwa in den Parteien der Arbeiterbewegung, sondern in christlichen und anderen Parteien organisiert waren. Dem sei nachzugehen.
Soweit so gut, so erfreulich. Weniger angenehm hatte die Tagung begonnen. Nein, gestritten hatte man sich nicht. Man war sich einig gewesen. Beängstigend einig.
Die federführende Autorin einer noch nicht erschienenen DDR -Biographie August Bebels, Ursula Herrmann vom Institut für Marxismus/Leninismus der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands war sich einig mit Hans Mommsen, dem Vorsitzenden der Historischen Kommission der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands. Einig worin?
Einig im Kampf gegen Brigitte Seebacher-Brandts Denkmal -Schändung. Sie hatte in einem kurzen Vortrag ihr 1988 im J.W. Dietz Nachf. Verlag erschienenes Buch „Bebel Künder und Kärrner im Kaiserreich“ (415 Seiten, 38 DM) zusammengefaßt.
Vom großartigen Vorbild August Bebel blieb wenig übrig. Ein knorriger Deutscher, der am Ende seines Lebens in erster Linie Interesse an der Unversehrtheit des Deutschen Reiches fand, der statt sich um eine Strategie zu kümmern, die die Lage der Arbeiter, ihre wirtschaftliche und ihre politsche, verbesserte, die Doppelbödigkeit von Tageskampf - von Parlamentsvorlage zu Parlamentsvorlage - und ökonomischem Kladderadatsch des kapitalistischen Systems mit anschließendem paradiesischen Zukunftsstaat kultivierte.
Bebel, so der deutlich vorgetragene Tenor, Bebel war kein politischer Kopf. Er wollte nicht etwas verwirklichen. Er hatte kein Projekt. Er betrieb, zum Teil sehr energisch, sehr begabt die Tagespolitik, die Kärrnerarbeit. Als Revolutionär galt er, weil er niemals vergaß seinen Reden eine Schlußpassage anzuhängen, ein ceterum censeo, das etwa so lautete: und im übrigen ist das alles sowieso sinnlos, denn die Krise und die anschließende Revolution wird diesem von Ihnen, meine Herren, so geschätzten System eh den Garaus machen.
Bebel war, so Seebacher-Brandt, nicht der Gegenspieler Bismarcks. Schon deshalb nicht, weil der solide Unteroffizierssohn und erfolgreiche Unternehmer - Türgriffe
-niemals und zu keinem Zeitpunkt ein Spieler gewesen war. Bebel hatte nie einen Sinn darin gesehen, gegen Bismarck eine möglichst breite Front aufzubauen. Die Klaviatur der parlamentarischen Hintertreppenabsprachen beherrschte er nicht. Seine Politik war stets, die Arbeiterinteressen oder doch das, was er dafür hielt, ins Zentrum zu rücken. Er war nie an einer Koalition mit den demokratischen, liberalen Parteien interessiert.
Bebel war das exakte Spiegelbild Bismarcks: wie der mit dem Staatsstreich, so rasselte Bebel mit der Revolution. Ähnlich waren sie sich auch darin, daß sie nie ernst damit machten. Bebels Antipathie gegen die Massenstreiks ist bekannt.
Bebels Sozialdemokratie hatte sich nie in der Kunst des Möglichen geübt. Sie war ein empörter und faszinierter Zuschauer des Kaiserreichs. Nicht mehr, nicht weniger.
Ihr gelungener Versprecher brachte die Bebelinterpretation von Seebacher-Brandt auf den Begriff: „Wenn 1914 noch Bismarck die Partei geführt hätte...“
Fast alle Teilnehmer waren empört über diese Denkmalschändung. Es gab kaum jemanden, der nicht gegen ihr Bebelporträt zu Felde gezogen wäre. Die Teilnehmer aus der DDR taten es deutlich, mal mehr, mal weniger dogmatisch, oft mit detaillierten Hinweisen auf anderslautende Äußerungen an anderer Stelle.
Zum Beispiel zitierte Brigitte Seebacher-Brandt den Bericht eines Beobachters von Bebels Besuch bei der Truppe im Mai 1907. Der 67jährige Bebel war mit seinen Genossen Singer, Suedekum und Noske nach Jüterborg gefahren und hatte dort zusammen mit anderen Reichstagsabgeordneten der Budget -Kommission die Truppe inspiziert. Es war das erste Mal, daß die vaterlandslosen Gesellen Zugang zur Truppe erhalten hatten. Von dieser Premiere liegen verschiedene Zeitungsberichte - kein einziger sozialdemokratischer - und ein Rapport des sächsischen Militärbevollmächtigten an seine Exzellenz, König Friedrich August III vor.
Aus allen Zeugnissen wird deutlich, daß Bebel begeistert war von den neuen Feldgeschützen und Maschinengewehren, von Disziplin und Kampfmoral der Truppe, daß er sich bestens mit den Offizierskorps verstand. Die DDR-Historikerinnen Dienstag war der große Tag nicht nur August Bebels bei dieser Veranstaltung, sondern auch der Frauen: von vier Referenten waren drei Frauen - leugneten nicht den Wahrheitsgehalt der Berichte, sie konterten: wichtiger als diese mehr privaten Beobachtungen sei doch Bebels Reichstagsrede, in der er wieder scharf gegen den Militarismus zu Felde zog.
Frau Seebacher-Brandt antwortete darauf nicht, sondern erklärte, es wäre vielleicht nötig, daß sie einmal die Maßstäbe ihrer Bebelrezeption auf den Tisch lege. Sie messe ihn nicht daran, ob er die Arbeiter einem sozialistischen Utopia habe zuführen wollen oder nicht. Sie interessiere sich dafür, ob Bebel die demokratischen Rechte der Arbeiter, ihre Partizipationsmöglichkeiten - ökonomisch und politisch
-zu erweitern geholfen habe oder nicht. Ihr Eindruck sei, Bebel habe bei weitem nicht den Spielraum genutzt, den das Kaiserreich geboten habe.
Bebel habe sich für die Demokratie nicht interessiert. Es gebe eine umfangreiche Korrespondenz mit Genossen in den USA - die hätten während der Sozialistengesetze die Partei finanziell sehr erfolgreich unterstützt - , Bebel sei niemals auch nur auf die Idee gekommen, sie einmal nach ihren Erfahrungen mit der amerikanischen Demokratie zu fragen. Die französische Republik sei für ihn eine der Geldsäcke gewesen und damit punktum. Demokratie war für ihn bürgerlich und sonst nichts.
Das sei ein schlimmes Erbe, an dem die deutsche Arbeiterbewegung schwer habe tragen müssen und noch zu tragen habe.
Die BRD-Historiker reagierten verbüffend ähnlich wie ihre Kollegen aus der DDR. Sie verteidigten ihren guten Papa Bebel gegen die Anwürfe der jungen Frau. Mal mehr, mal weniger klug. Einer aber machte es auf eine Weise, die festgehalten werden muß, wenn die Öffentlichkeit solcher Veranstaltungen einen Sinn hat.
Professor Hans Mommsen. Er erklärte, Bebel sei natürlich in den Grenzen seiner Zeit zu sehen, ganz sicher habe er nicht mehr verstanden, was Imperialismus bedeute, habe den epochalen Einschnitt, den der darstelle, nicht mehr wahrgenommen. „Aber“, und jetzt wendet sich Mommsens Gesicht ab von Frau Seebacher-Brandt und den Kollegen im Saal zu sein Unterkörper freilich hat die Wendung nicht mitgemacht und erklärt: die Überalterung ist ja ein ewiges Problem der sozialdemokratischen Partei und nicht nur ihres.
Wer das nur als Biß in Richtung SED verstand und die Beleidigung, die für die Ehefrau des Ehrenvorsitzenden der SPD und der Sozialistischen Internationale nicht bemerkte, der konnte ein paar Minuten später mitbekommen, wie der Herr es gemeint hatte.
Klaus Tenfelde, Mommsens Mitstreiter seit 20 Jahren, erklärte Frau Seebacher-Brandt, sie solle sich nicht so aufregen, natürlich habe Preußen-Deutschland sich die Arbeiterbewegung geschaffen, die es verdiene; man dürfe da dem lieben Bebel doch keinen Vorwurf machen. Mommsen, der hinter ihm saß, zischte ihm zu - „mehr Demokratie wagen“ und Tenfelde folgte der Stimme seines Herrn und plärrte: „Ich höre hinter ihrem Plädoyer für die Tradition westlicher Demokratie das 'ein bißchen mehr Demokratie wagen'“. Die Herren lächelten sich befriedigt zu. Der hatten sie es gezeigt.
Wie wenig die Anwesenden verstehen wollten, worum es Frau Seebacher-Brandt ging, zeigte sich noch einmal als die Bebelbiographin auf den Vorwurf, sie solle nicht von einer Doppelbödigkeit Bebels reden, das klinge so negativ - man schlug ihr das vertraute 'Widersprüchlichkeit‘ vor antwortete und von Bebels Vermögensverhältnissen sprach. Der Mann habe über Jahrzehnte in hunderten von Reden den bald drohenden Untergang des Kapitalismus, seinen baldigen ökonomischen Zusammenbruch beschworen, habe keine Woche gelebt, ohne vom großen Kladderadatsch des Systems zu sprechen - das habe ihn aber nie daran gehindert, in die Zukunft eben dieses Systems zu investieren, sein Geld arbeiten zu lassen, mit ihm zu spekulieren.
Die versammelte Sozialistengemeinde sah darin keine Verlogenheit, keinen Schwindel. Sie schien es ihrem Urpapa als Schläue, sympathische Raffinesse zu verbuchen. Frau Seelbacher-Brandt meinte die schlichte Tatsache, daß der Politiker August Bebel seinem Wahlvolk erzählte, dieses System breche morgen zusammen, während er das Leben seiner Familie und sein eigenes nach der genau entgegengesetzten Prognose arrangierte.
Auf dem Bebelplatz in Berlin, Hauptstadt der DDR, steht ein Denkmal des preußischen Generals Scharnhorst. Ihm gegenüber zeigen junge Soldaten mehrmals am Tag vor Schinkels Neuer Wache, was preußischer Drill ist. Bei jeder Wachablösung fliegen die Beine im Stechschritt.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen