: Bürgerkrieg in einer verbotenen Stadt Kämpfe im Militär?
■ Immer mehr Tote in Peking / Immer mehr Soldaten / Immer noch Barrikaden / Tote auch in der Provinz / Deng befahl persönlich das Massaker / Wirtschaftssanktionen der USA
Peking (afp/ap/dpa/taz) - Die Menschen in Peking sterben weiter unter den Kugeln ihrer Armee. Peking, eine Stadt wie im Bürgerkrieg: Nach dem Massaker vom Wochenende rollte das Militär gestern unablässig Nachschub in die Stadt. Unablässig zogen Panzerkonvois und Soldaten ins Zentrum, 100.000 Soldaten halten ihre Hauptstadt in Schach, allein auf dem Tiananmen-Platz stehen Zehntausende unter Waffen. Die Trupps der „Volksbefreiungsarmee“ schossen auch gestern wahllos um sich, von ausschwärmenden Transportern feuerten Bewaffnete, Soldaten zielten auf Fenster von Wohnungen in der Straße des Himmlischen Friedens, immer wieder gaben sie Gewehrsalven auf Menschen ab, die sich den Einheiten näherten. An einem der Verkehrsknotenpunkte schossen die Soldaten mit Maschinengewehren in eine empörte, unbewaffnete Menschenmenge.
Trotz des Gemetzels vom Vortag bauten Demonstranten wieder Barrikaden vor den anrückenden Militärkonvois. Das Militär hat in der Stadt Brücken und andere wichtige Punkte an den Hauptverkehrsstraßen besetzt. Immer wieder lieferten sich StudentInnen und BewohnerInnen nur mit Steinen und Knüppeln in der Hand Straßenkämpfe mit den Soldaten. Die Zahl der Toten stieg weiter. Wieviele Menschen dem Blutbad von Peking zum Opfer fielen, weiß niemand. Die Schätzungen von Studenten übersteigen die Zahl von 4.000. Das BBC-Fernsehen bezifferte die Todesopfer bis gestern sogar auf 7.000. Die Führung hat den Krankenhäusern offenbar verboten, Zahlenangaben zu machen. Studenten berichteten der taz gestern, aus dem Krankenhaus der japanisch-chinesischen Freundschaft hätten Soldaten verwundete Kommilitonen herausgeholt und erschossen.
Das öffentliche Leben in der chinesischen Hauptstadt bestimmte gestern nur das Militär. Fast alle Läden sind gechlossen, die Busse fahren nicht, in den meisten Betrieben wird nicht gearbeitet - die Studenten hatten zum Generalstreik aufgerufen. Die Leute brauchten diesen Aufruf offenbar nicht.
Unbestätigten Berichten zufolge kam es im Süden Pekings zu Gefechten zwischen rebellierenden und loyalen Truppenteilen; die Armee sei in Befürworter und Gegner eines Rückgriffs auf brutale Waffengewalt gegen die Demonstranten gespalten. Etliche Soldaten sollen sich während der Militäroffensive geweigert haben, die Waffen auf wehrlose Zivilisten zu richten, oder sollen schlicht übergelaufen sein. Aus den nordwestlichen Vororten Pekings war am Montag Artilleriefeuer zu hören. Am Sonntag hatte es geheißen, die bei dem Massaker auf dem Tiananmen-Platz eingesetzten Einheiten seien von weit aus der Provinz hergeholt worden. Aus chinesischen Kreisen verlautete am Montag ferner, die rund um Peking stationierte 38. Armee habe sich geweigert, gegen die Bevölkerung der Hauptstadt vorzugehen. Für das Massaker vom Sonntag sei die 27. Armee verantwortlich. Die 38. Armee habe inzwischen Befehl erhalten, die 27. Armee abzulösen, doch sei noch nicht klar, ob sie diesem Befehl nachkomme. Aus chinesischen Kreisen verlautete gleichzeitig, daß auf dem Luftwaffenstützpunkt Nanyuan südlich von Peking Kämpfe zwischen militärischen Einheiten ausgebrochen seien.
Auch in der Provinz probt die Bevölkerung offen den Aufstand. Aus der Industriestadt Wuhan wurden die ersten beiden Toten gemeldet, in Schanghai begann ein Generalstreik, während vor den Toren Nankings Truppen aufmarschierten. In allen größeren Provinzstädten kam es zu Massenkundgebungen und Blockaden von Eisenbahnlinien.
Die chinesische Führung rechtfertigte den brutalen Armee -Einsatz derweil ohne Einschränkungen. Den „Konterrevolutionären“ wurde der totale Krieg angesagt. Die Soldaten wurden gelobt, daß sie die ihnen auferlegte „schwere“ Verantwortung auf sich genommen und die „Konterrevolution“ niedergeschlagen hätten. Es trat jedoch keiner der führenden Politiker von Partei und Regierung an die Öffentlichkeit oder bekannte sich mit seinem Namen zu der Aktion des Militärs. Fortsetzung auf Seite 2
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In einer am Montag verbreiteten gemeinsamen Erklärung des Staatsrates (Kabinett) und des KP-Zentralkomitees heißt es, man müsse „klar erkennen, daß der konterrevolutionäre Aufruhr noch nicht völlig niedergeschlagen“ sei. Die angeblichen Umstürzler würden „bis zum Ende“ mit aller Härte bekämpft. Eine „extreme Minderheit“ von Aufrührern habe die Regierung
stürzen wollen und seit einem Monat Menschen zu Gewalttaten aufgehetzt, die Dutzende von Soldaten und Polizisten umgebracht und andere Verbrechen begangen hätten. Als Urheber nannte die Regierung Befürworter eines bürgerlichen Liberalismus westlichen Stils und Anhänger der 1976 entmachteten ultralinken „Viererbande“.
Die graue Eminenz Deng Xiaoping hat in seiner Eigenschaft als Vorsitzender der Militärkommission den Truppeneinsatz auf dem Tiananmen-Platz persönlich angeordnet,
sagte ein Beamter, der im Büro des früheren Staatspräsidenten Li Xiannian arbeitet. Der 84jährige Deng liegt mit Prostatakrebs im Krankenhaus. Sein Zustand ist offenbar ernst. Der Beamte zitierte Deng mit den Worten, in China könne auch eine Million Menschen eine kleine Zahl sein.
Die USA zeigten gestern erste deutlichere Reaktionen auf das Massaker von Peking. Präsident Bush untersagte unter anderem alle Militärlieferungen an die Volksrepublik. Schweigen aus Moskau.
ar
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