: DDR-Kirchen wollen neues Wahlrecht
■ Schreiben der DDR-Landeskirchen an Staatsführung fordert neues Wahlsystem und Beantwortung der Bürgereingaben
Ost-Berlin (ap) - Die gesamte evangelische Kirche der DDR hat sich am Dienstag einmütig für das Überdenken des bisherigen Wahlsystems mit dem Ziel eines neuen Wahlrechts ausgesprochen. Die Leitung der acht Landeskirchen bat die Staatsführung in einem gemeinsamen Schreiben „dringend, eine konkrete und schnelle Beantwortung der im Zusammenhang mit den Kommunalwahlen eingereichten Eingaben und Anträge zu veranlassen“. Kirchengruppen hatten bei der Kommunalwahl am 7. Mai Kritik an der Stimmauszählung geübt und erklärt, es habe dabei erhebliche Manipulationen gegeben.
„Wir brauchen um des Friedens willen eine weitere Stärkung des Rechts. Dazu gehört auch eine Weiterentwicklung des Wahlverfahrens, damit jeder Bürger aktiv Auswahlentscheidungen treffen kann und eindeutig über die Wertung der Stimmen unterrichtet ist“, fordert die Kirchenleitung in ihrer ersten offiziellen Stellungnahme zu der Wahl. Die Kirche würde es begrüßen, wenn die bisherige Durchführung der Wahl ausgewertet würde. Dabei müßten auch die Einsprüche und Eingaben berücksichtigt werden, die gegen die Stimmauszählung eingelegt wurden, heißt es. Ziel müsse die Neugestaltung künftiger Wahlen sein.
Gleichzeitig drückt die Kirchenleitung ihre Beunruhigung über die Behandlung von Kritik der Bürger durch den Staat aus: „Wir sind erschrocken über die beobachteten Unstimmigkeiten bei der Auswertung der Wahl. Wir sind beunruhigt über das Übergehen von Eingaben und Einsprüchen. Wir verstehen die Empörung, die manche ergriffen hat“, heißt es in dem Papier. „Die Besorgnis wird durch Antworten staatlicher Organe, es sei alles korrekt verlaufen, und durch die gelegentliche Ankündigung, die Eingeber müßten sich für ihr Verhalten verantworten, noch verstärkt.“
Kirchengruppen hatten in vielen Wahllokalen die Stimmauszählung beobachtet. Dabei zählten die Beobachter sehr viel mehr Nein-Stimmen als später vom Wahlleiter angegeben wurden. Zum ersten Mal seit Jahren war das Ergebnis der Kommunalwahlen jedoch auch nach offiziellen Angaben unter die 99-Prozentmarke gesunken.
Nach der Wahl stellten einzelne Bürger Anzeige wegen Wahlbetrugs oder machten Eingaben an den Staatsrat. In Leipzig demonstrierten an die 800 Bürger für freie Wahlen. Über 100 von ihnen wurden festgenommen. Angesichts dieser Ereignisse heißt es in der Erklärung, die Kirche gehe davon aus, daß kein DDR-Bürger wegen der Wahrnehmung staatsbürgerlicher Rechte Nachteile erfahre.
Die Kirche warnte zugleich ihre Mitglieder vor „übertriebenen Aktionen oder Demonstrationen“. Diese seien kein Mittel der Kirche. Die Christen sollten ihre Anfragen auch sachlich vorbringen, damit ihre Mitverantwortung für das Ganze deutlich bleibe.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen