China mitten im Machtkampf

■ Widersprüchliche Gerüchte um Wechsel in der Parteiführung / Massenexodus der in China lebenden Ausländer / Botschaften organisieren Sonderflüge / Schüsse im Ausländerviertel / Friedliche Proteste der Studenten und Arbeiter dehnen sich auf Provinzstädte aus

Peking (ap/afp/dpa) - Nach der blutigen Niederschlagung der Studentenbewegung für Freiheit und Demokratie greift in China offenbar ein Chaos unter weitgehendem Ausschluß der Weltöffentlichkeit um sich.

Ein Großteil der örtlichen Medien hat die Berichterstattung praktisch eingestellt. Aus den spärlichen Hinweisen in Medien am Mittwoch schlossen Beobachter, daß der reformwillige KP-Generalsekretär Zhao Ziyang durch eines der vier anderen Mitglieder des Ständigen Ausschusses des Politbüros, Quiao Shi, ersetzt worden sein könnte. Im Rundfunk wurde eine Meldung der amtlichen Nachrichtenagentur Xinhua verlesen, wonach der oberste Volksgerichtshof Quiao telegrafisch seine Unterstützung für das Vorgehen des Militärs gegen die Demonstranten versicherte. Das Telegramm war nicht an Zhao gerichtet, der dem Vernehmen nach entmachtet worden war. Quiao Shi ist als Mitglied im Ständigen Ausschuß des Politbüros auch verantwortlich für die öffentliche Sicherheit. Es ist dabei nicht auszuschließen, daß er gewählt wurde, weil die Rechts- und Sicherheitsfragen in seinen Arbeitsbereich fallen. Bei einem späteren Rundfunkbericht wurde gemeldet, Ministerpräsident Li Peng habe am Dienstag eine Rede über die Wirtschaft des Landes gehalten. Zuvor hatte es Berichte aus Hongkong gegeben, nach denen Li Peng bei einem Attentat angeschossen worden sein soll.

Der Exodus der in China lebenden Ausländer nahm am Mittwoch weiter zu. Am Flughafen drängten sich Tausende, die Peking aus Furcht vor weiterem Blutvergießen verlassen wollen. Viele Länder haben Sonderflüge mit Großraummaschinen für die Rückkehrer eingesetzt. Eine große Zahl von Regierungen aus aller Welt hat ihre Staatsbürger zur Rückkehr in die Heimat aufgefordert. Die Bonner Botschaft in Peking hat allen in der chinesischen Hauptstadt anwesenden Bundesbürgern empfohlen, diese sofort zu verlassen, weil ihre Sicherheit nicht mehr gewährleistet sei. Sie sollen mit der Lufthansa ausgeflogen werden. Britische Studenten, die mit Chartermaschinen nach Hongkong evakuiert wurden, berichteten von Greueltaten der chinesischen Soldaten.

Truppen der Armee hatten den Jian-Guo-Men-Wai-Komplex, ein Gebäude für Ausländer und Diplomaten im Zentrum Pekings, beschossen und eingekesselt. Die Soldaten suchten nach Angaben der Kriegsrechtsverwaltung nach einem isolierten Schützen, der aus dem Gebäude auf die Armee-Einheit gefeuert haben soll und dabei einen Soldaten getötet habe. Die Blockade konnte erst nach der Intervention mehrerer Botschaften aufgehoben werden. Alle dort noch verbliebenen Ausländer verließen in einem langen Autokonvoi aus etwa 50 Wagen das Gelände und suchten in Hotels Schutz. Der chinesische Physiker Fang Lizhi, bekannter Gegner des chinesischen Regimes, befindet sich seit Montag in der US-Botschaft, wurde unterdessen in Washington bekannt gegeben.

Soldaten der berüchtigten 27. Armee hatten Schüsse direkt auf den Gebäudekomplex der Ausländer abgefeuert. Opfer waren nicht zu beklagen. Zu den Bewohnern gehörten vor allem japanische Geschäftsleute sowie asiatische und afrikanische Diplomaten und ihre Familien.

Etwa 20 Appartements waren direkt von Schüssen getroffen worden. Ein an der Spitze des Militärkonvois fahrender Offizier hatte zuvor über Megaphon dazu angehalten, in Deckung zu gehen: „Weg von Fenstern und Balkonen, sonst müßt ihr die Folgen tragen!“ Am Montag hatte die Gebäudeverwaltung die Bewohner davon in Kenntnis gesetzt, daß die Truppen den Befehl hätten, sofort zu schießen, falls sie Kameras oder Ferngläser sehen sollten. Einige Ausländer machten sich mit dem Fahrrad auf den Weg zum Flugplatz, da es so gut wie keine Taxen oder Busverbindungen gibt.

In den östlichen und südlichen Provinzen Chinas haben sich große Teile der Studenten- und Arbeiterbewegung zu weniger lautstarken Protesten zusammengeschlossen. Sie ziehen das Verteilen von Flugblättern oder das Blockieren von Straßen den großen Demos nach Pe

kinger Vorbild vor. Der Widerstand scheint sich auf weite Teile des Landes auszudehnen, wurde aus Nanking, Hangtschau, Guangtschau und Hefei berichtet. In Schanghai und anderen Städten hat offenbar auch das Errichten von Barrikaden nicht zu größeren Zwischenfällen geführt. Die Studenten befürchten offenbar, Teilen des Militärs und Hardlinern einen Vorwand zu brutalem Vorgehen zu liefern. In Chengdu, der Hauptstadt von Setschuan, soll unterdessen das Kriegsrecht verhängt worden sein. Dort soll es zu heftigen Zusammenstößen zwischen der Polizei und Demonstranten gekommen sein.