: „Panzer kreisten uns ein“
Ein 20jähriger Student der Qing-Hua-Universität berichtet von dem Massaker auf dem Tiananmen-Platz ■ D O K U M E N T A T I O N
(...) Die Nachricht von der bevorstehenden Räumung des Platzes durch das Militär hat uns aufgeschreckt. Wir riefen eine Versammlung der führenden Studenten ein, um weitere Maßnahmen abzusprechen. Und vor allem um eine blutige Auseinandersetzung zu vermeiden.
Wir besaßen 23 Gewehre und einige Flammenwerfer, die wir während einer Auseinandersetzung vor zwei Tagen erbeutet hatten. Der „autonome Hochschulverband“ blieb bei dem Beschluß, auf dem Weg zur Demokratie gegen das Militär keine Gewalt anzuwenden. Daher wollten wir diese Waffen den Truppen übergeben. Nach Gesprächen mit den Soldaten und nach Rückmeldung von höheren Militärkreisen wurden die Waffen zurückgewiesen.
Nach diesen vergeblichen Versuchen wurden gegen ein Uhr in der Nacht am Denkmal die Gewehre zerstört und die Flammenwerfer unschädlich gemacht, weil sich die Situation immer mehr zuspitzte. Die Waffen sollten nicht von schlechten Elementen benutzt werden. Außerdem wollten wir vermeiden, daß die Behörden dadurch Beweise gegen uns in die Hände bekommen.
Der „autonome Hochschulverband“ machte alle Menschen auf diesem Platz auf die augenblicklich gefährliche Situation aufmerksam. Alle Menschen sollten den Platz räumen. Aber trotzdem blieben insgesamt rund 40.000 bis 50.000 Studenten und 100 000 Bürger auf diesem Platz versammelt. Auch ich blieb an diesem Ort. (...)
Nach Mitternacht fuhren zwei Panzer aus der Richtung des Tores von zwei Seiten mit hoher Geschwindigkeit auf den Platz vor. Die Situation spitzte sich weiter zu. Das Militär ließ wiederholt seine Ansage verbreiten. Gleichzeitig rückten die Soldaten mit Stahlhelmen in mehreren Reihen von allen vier Seiten auf den Tiananmen-Platz. In der Dunkelheit konnte man aber erkennen, daß auf dem „Museum für chinesische Geschichte und Revolution“ Maschinengewehre postiert waren. Wir Studenten zogen uns an das Denkmal zurück. Von den anwesenden Studenten waren nach meiner Schätzung etwa zwei Drittel Männer und ein Drittel Frauen, wobei etwa 30 Prozent von der Pekinger Universität und die Mehrheit der Studenten aus anderen Städten in China kamen.
Um Punkt vier Uhr gingen die Lichter auf dem Platz aus und es erging erneut der Befehl, den Platz zu verlassen. Plötzlich wurde ich sehr ängstlich und dachte mir, daß nun unsere Zeit gekommen wäre. (...)
Als die Studenten den Platz verlassen wollten, um vier Uhr 40, wurden rote Signalraketen in den Himmel geschossen. Darauf gingen alle Lichter auf dem Platz wieder an. Ich sah, daß vor dem Platz viele Soldaten standen. In diesem Augenblick kam von der Ostseite der „Großen Halle des Volkes“ eine Truppe Soldaten in Kampfanzügen und Gewehren mit aufgesteckten Bajonetten. Sie trugen Helme und Gasmasken. In diesem Moment fiel mir ein, daß wir noch am 3.Juni mit einem führenden Offizier der Truppe verhandelt hatten, die die Westseite der „Großen Halle des Volkes“ überwachte. Er hatte garantiert, daß die nachrückende Truppe, die Szechuan-Truppe, nicht auf Studenten schießen wird. Die anstürmenden Soldaten, so dachte ich, sind die aus Szechuan.
Nachdem die Truppe vorgestürmt war, wurden etwa ein Dutzend Maschinengewehre aufgestellt. Die Maschinengewehrschützen legten sich auf den Boden, im Rücken das Qianmen-Tor, die Gewehrmündungen zeigten in Richtung des Denkmals. Nachdem die Maschinengewehre postiert waren, tauchten plötzlich wieder viele Soldaten und bewaffnete Polizisten mit elektrischen Schlagstöcken und mit Plastik überzogenen Stöcken auf. Ich sah außerdem Waffen, die ich noch nie zuvor gesehen hatte. Die Bewaffneten rannten direkt auf uns, eine friedlich demonstrierende Gruppe, zu. Sie schlugen uns mit aller Kraft und trieben uns nach zwei Seiten auseinander. So haben sie einen Keil gebildet und uns bis zur dritten Stufe des Denkmals getrieben, immerzu auf uns einschlagend. Ich habe gesehen, daß bei 40 bis 50 Studenten die Köpfe so stark verletzt wurden, daß alles voller Blut war. In diesem Moment kamen die Panzer und Soldaten, die auf dem Platz standen, langsam auf uns zu. Die Panzer kreisten uns eng ein und ließen nur einen Ausgang in Richtung des Museums.
Die Soldaten, die uns bis zur dritten Stufe des Denkmals hinuntergeprügelt hatten, zerstörten oben zuerst unsere Megaphone, Druckwerkzeuge und Getränkevorräte. Danach wurden die Studenten unter Schlägen nach unten getrieben. Wir blieben sitzen und sangen Hand in Hand die Internationale. Außerdem riefen wir „Volksbefreiungsarmee, schlag nicht das Volk!“. Aber viele Soldaten schlugen mit ihren Stöcken, und die Studenten, die auf der dritten Stufe saßen, wurden dadurch gezwungen, herunterzukommen.
Als die Studenten von der dritten Stufe bis zum Boden heruntergeschlagen worden waren, fingen die Maschinengewehre an zu feuern. Manche Soldaten knieten nieder und schossen. Diese Gewehrkugeln flogen über die Köpfe hinweg. Die Soldaten, die auf dem Boden lagen, trafen mit den Kugeln die Menschen in Brust und Kopf. Als wir das sahen, flohen wir wieder hoch auf das Denkmal. Aber als wir auf dem Denkmal angelangt waren, hörten alle Maschinengewehre auf. Gleichzeitig prügelten uns die Soldaten wieder vom Denkmal runter. Als wir unten waren, schossen die Maschinengewehre wieder. Ohne Rücksicht auf das eigene Leben haben umstehende Bürger Flaschen und Holzstöcke genommen und mit den Soldaten gekämpft. In diesem Augenblick forderte der „autonome Hochschulverband“ die Studenten und Bürger dazu auf, den Platz zu verlassen. Es war kurz vor fünf Uhr.
Die Panzerwagen hatten den Platz eingekreist und nur den einen Ausgang gelassen. Als die Studenten in Richtung dieses Ausganges zu fliehen versuchten, wurde dieser Ausgang von gewissenlosen Panzerfahrern blockiert. Mehr als dreißig Panzerwagen überrollten einige Menschen und auch unsere Flaggen vor dem Denkmal. Auf dem Platz herrschte ein Chaos. Ich war überrascht, daß die Studenten so mutig sind. Denn wir gingen zu den Panzerwagen hin und versuchten sie mit den Händen zurückzuschieben. Einige von uns wurden dabei erschossen. Andere rannten über die Leichen hinweg zu den Panzerwagen und versuchten ebenfalls, diese mit den Händen zurückzuschieben. Endlich gelang es uns, einen Panzerwagen wegzuschieben und dadurch einen Ausgang zu schaffen. Ich lief in einer Menge von über dreitausend Studenten durch den Ausgang hinaus. Gleichzeitig wurde von hinten auf uns geschossen. Nur etwa tausend von uns erreichten das Museum. Davor standen noch viele Bürger. Mit diesen liefen wir aus Angst sofort nach Norden, in Richtung Tiananmen-Tor. Kaum waren wir einige Schritte gerannt, sahen wir Mündungsfeuer aus Richtung Norden hinter den Bäumen. Da drehten wir uns um, zurück nach Süden, in Richtung Quianmen-Tor.
Wir rannten, weinten und sahen auf dem Weg viele Tote. Als wir zum Quianmen-Tor gerannt waren, kamen uns viele Soldaten entgegen. Sie schossen nicht auf uns, aber schlugen mit langen Stöcken auf uns ein. Da kamen viele Bürger und versuchten, die Soldaten aufzuhalten, um die Studenten zu schützen, so daß wir in Richtung Bahnhof fliehen konnten. Die Soldaten verfolgten uns weiter. Inzwischen war es fünf Uhr. Der Lärm der Schießerei wurde langsam schwächer. Ich traf einen Kommilitonen in der Rot-Kreuz-Station. Dieser erzählte mir, daß nur die Studenten, die bis fünf Uhr den Platz verlassen hatten, fliehen konnten.
Was mir unvergeßlich ist: Einer meiner Kommilitonen aus der Jiangsu-Provinz von der Qing-Hua-Universität war von Schüssen schwer verletzt worden und flüchtete mit uns. Unterwegs konnte er nicht mehr weiter und klammerte sich von hinten an meine Schultern und sagte zu mir: „Trag mich!“ Ich hatte schon zwei schwache Kommilitoninnen eingehakt. Ich habe ihn nicht halten können. Er fiel runter. Andere traten auf ihn. Er muß gestorben sein. Auf meinem Hemd ist noch eine Blutlache von ihm. Sein Körper war voller Blut gewesen. (...)
Dieser gekürzte Artikel erschien am 5.Juni 1989 in der Hongkonger 'Wen-Hui'-Zeitung. Diese Zeitung wird von der KP Chinas zu 100 Prozent finanziert.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen