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Trügerische Ruhe in Peking

Gerüchte sprechen von Abkommen zwischen einzelnen Truppeneinheiten, nicht aufeinander zu schießen / Pekings Bürger klappern auf der Suche nach Angehörigen die Krankenhäuser ab  ■  Aus Peking Th.Reichenbach

Die trügerische Ruhe in Peking hält an. In der Nacht zum Donnerstag und am Tage gab es erstmals seit dem Massaker vom 4.Juni keine Meldungen über Schußwechsel oder neue Opfer im Stadtzentrum. Die Bevölkerung traut sich nach dem Schock wieder auf die Straße und schaut sich die Verwüstungen an. Gestern öffneten nach drei Tagen Ladenstreik die Lebensmittelgeschäfte und andere Läden, um die Versorgung der Bevölkerung zu gewährleisten. Kinos, Theater, Restaurants u.ä. blieben geschlossen. Die Busse fahren weiterhin nicht, aber die U-Bahn befördert wieder Passagiere zum Bahnhof. Es fahren inzwischen wieder Züge von der Hauptstadt weg, aber von außerhalb kommen kaum noch Züge an. In den Wartehallen, sonst mit 200.000 auswärtigen Besuchern und Pendlern überlastet, befinden sich nur noch mehrere Zehntausend Pekinger, in der Mehrheit heimfahrende Studenten, vor dem Bahnhof und im Gebäude selbst ist Militär postiert.

Die Straße vom Bahnhof zum zwei Kilometer entfernten Tiananmen bietet ein Bild der Zerstörung. Auf Tiefladern werden gerade die ersten vier ausgebrannten Omnibusse von der Armee fortgeschafft. Die Leitplanken sind aus ihren Verankerungen gerissen worden und liegen verbogen am Straßenrand. Viele Fensterscheiben sind geborsten. Wo der Gehsteig nicht asphaltiert war, hatten Arbeiter das Pflaster aufgerissen, überall liegen die Steine herum. Die Armee ist stark präsent, aber auf dem 1,5 Kilometer langen Abschnitt zwischen Bahnhof und Peking-Hotel sind keine Panzer mehr zu sehen. An den Kreuzungen stehen jeweils etwa 20 Soldaten mit geschultertem Gewehr, Stahlhelm und roter Armbinde.

Die Soldaten verhalten sich aber neuerdings völlig ruhig. Martialischer dagegen wirken die voll besetzten Armee-Lkw, auf deren Ladefläche Soldaten mit aufgepflanztem Maschinengewehr im Anschlag stehen. Alle zehn Minuten fahren solche Patrouillen in Richtung Tiananmen.

Die Menschen fühlen sich hier zur Zeit relativ sicher. Am Straßenrand haben sich einige Bürger zum Beobachten niedergelassen, die Straßen sind alle durchaus belebt. Hinter dem Peking-Hotel wird die Weiterfahrt durch die Armee gestoppt, daher bleibt der Blick auf den Tiananmen verwehrt. Angeblich sollen jetzt Truppen des 38.Korps auf dem Tiananmen die Stellungen übernommen haben. Entgegen aller Spekulationen ist es nicht zu dem erwarteten großen Entscheidungskampf zwischen den rivalisierenden Armee -Einheiten gekommen. Unüberprüfbare Meldungen sprechen gar von einem Abkommen unter den Truppenteilen, daß Soldaten der gleichen Armee nicht aufeinander schießen werden. Zwar gab es bereits bei einzelnen Zusammenstößen Tote, aber nicht in großem Maße. An den Universitäten wird das als schlechte Nachricht gewertet, denn so bleibt am ehesten alles beim Alten. Nur ein Putsch des 38.Korps oder ein geschlossenes Vorgehen der um Peking stationierten Truppenverbände hätte die Regierung schnell zum Rücktritt zwingen können.

Angesichts der quälenden Ruhe fürchten viele, die Regierung könnte sich selbst noch nach dem Massaker konsolidieren. Dann droht noch stärkere Repression und Abrechnung mit allen „Aufrührern“ und „Konterrevolutionären“, wie es der Regierungssprecher Yuan Mu bereits angekündigt hat. An den Universitäten sind deshalb alle Spuren der Studentenorganisationen bereits verwischt. Die Wohnheime sind inzwischen fast ganz verlassen. Eine Studentin kommt mit einem gepackten Rucksack aus ihrem Zimmer, sie fährt zum Bahnhof. „Wir können jetzt nichts mehr tun, und Peking ist einfach zu gefährlich. Im ganzen Wohnheim sind nur noch ein paar Mädchen geblieben, und ich habe abends allein ziemlich viel Angst. Niemand weiß, was noch passiert.“ An der Peking -Universität ist kein Verantwortlicher mehr zu finden, den man hätte über die Opferzahlen befragen können. Von 2.000 bis 7.000 Toten und Verletzten werden alle Zahlen genannt.

Die taz suchte gestern das große Unionskrankenhaus direkt im Zentrum der Stadt auf, etwa ein Kilometer vom Ort des Massakers entfernt. Journalisten werden zwar nicht empfangen, aber es wird ihnen Einlaß gewährt, wenn man auf der Suche nach vermißten Kommilitonen ist. Eine Ärztin hat drei Namenslisten mit Verletzten auf dem Schreibtisch liegen, mit Eintragungen vom 4.Juni (90 Namen), 5.Juni (40 Namen) und 6.Juni (25 Namen). Über die Zahl der Toten wird generell keine Auskunft erteilt. Der Reihe nach blättern die zehn Besucher, alles Studenten, die Listen auf der Suche nach ihren Zimmergenossen durch. Die Verletzten sind auf über 30 Krankenhäuser verteilt, und es gibt noch keinen Informationsaustausch über die Namen der Eingelieferten. Angehörige müssen deshalb alle Krankenhäuser absuchen. Bei vielen Patienten ist die Identität ungeklärt. Für diese Fälle wurden Polaroid-Farbfotos aufgenommen und in ein Buch eingeklebt. Wer auf den Listen die vermißte Person nicht findet, kann die Bilder abgleichen. Mehrere Dutzend Personen, fast ausnahmslos junge Männer bis 25 Jahre, sind im Zustand der Einlieferung dargestellt. Manche mit halb weggeschossenem Gesicht, andere mit mehreren Einschüssen in der Brust, die Kleidung blutüberströmt. Einem älteren Arbeiter ist ein Projektil mitten durchs Nasenbein gedrungen. Einem Studenten ist der Hals aufgerissen, ein anderer hat einen Hüftschuß - alles gestochen scharf in Farbe. Zum Erbrechen. Beim Verlassen des Hospitals fährt gerade ein Militär-Lkw mit aufsitzender Infanterie vorbei, die Gewehre im Anschlag. In diesem Moment fühlt man nur noch Haß.

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