: Wie Phönix aus der Asche
■ Leningrad im 48.Jahr nach der Blockade
Michael Schneider
Der Besuch des Piskarjow-Friedhofes im Nordosten von Leningrad, auf dem die Opfer der Blockade in Massengräbern bestattet wurden, gehört nicht zum offiziellen Sightseeing -Programm für Westtouristen; unter den Einheimischen, die dieses Totenfeld betreten, Narzissensträuße an der ewigen Flamme niederlegen und sich schweigend in den beiden Pavillons am Eingang drängen, sieht man denn auch nur vereinzelte Ausländer, die artig ihre Kameras zücken. In den Pavillons sind Fotos und Dokumente aus Leningrads schwerster Zeit zu sehen, darunter das Tagebuch der Tanja Sawischewa, ein Schulheft, in dem das Mädchen mit krakeliger Schrift die Todesdaten seiner Angehörigen notiert hat: elf Namen in drei Monaten. Und dann: „Sawischewas sind tot. Alle sind tot. Nur Tanja ist übriggeblieben.“
Der Besucher des Gedenkfriedhofs kann sich nur schwer das Ausmaß der Entbehrungen und Leiden vorstelllen, unter dem die Zivilbevölkerung während der Blockade zu leiden hatte. Ein Stück Brot und eine kleine Petroleumlampe in einer Vitrine sollen an Hunger und Kälte erinnern. 125 Gramm Brot war die tägliche Ration für Hausfrauen, Angestellte, Alte und Kinder; eine Ration weit unter dem Existenzminimum, die für viele das Sterben nur hinauszögerte. „Wir können ihre Namen nicht aufzählen“, heißt es in der Inschrift am Ehrenmal, „aber niemand ist vergessen und nichts ist vergessen.“ Diese Sätze stammen von Olga Bergholz, der 1975 verstorbenen Leningrader Lyrikerin, berühmt in ihrem Land wegen der Ermutigungsgedichte, die sie damals unter der Belagerung für die Eingeschlossenen verfaßt hatte.
Mit der Einnahme von Schlüsselburg am 8.September 1941 unterbrach das faschistische Oberkommando die letzte Landverbindung und blockierte für 900 Tage die Stadt an der Newa. Damit war Leningrad, das zugleich unter andauerndem Artilleriebeschuß und Bombardement stand, vom sowjetischen Staatsgebiet vollständig abgeschnitten, all seine Versorgungs- und Nachschublinien blockiert. Nur auf dem Luft - und Wasserweg - über dem im Winter zugefrorenen Lagoda-See - konnte ein Teil der Leningrader Bürger evakuiert, konnten Nahrungsmittel und Heizmaterial herangeführt werden; zu wenig, um das Massensterben zu verhindern und die Front zu ernähren. Zwischen 700.000 und 900.000 Leningrader starben den Hunger-, Kälte- und Bombentod. Insgesamt kamen an der Leningrader Front anderthalb Millionen Zivilisten und Militärpersonen ums Leben. Dennoch ergab sich die eingekesselte Stadt nicht der Übermacht der faschistischen Okkupationsarmee und dem von ihr in die Stadt geschickten Massentod: dem Hunger. Sie hielt unter unsäglichen Entbehrungen und Opfern und unter schier übermenschlichen Anstrengungen stand, bis die Rote Armee im Sommer 1944 den Blockade-Ring sprengte.
Zu den einzigartigen Ruhmesblättern der Stadt, die Hitler „dem Erdboden gleichmachen“ wollte (wie es wörtlich in einer Direktive des Oberkommandos der Deutschen Wehrmacht geheißen hatte), gehört die kollektive Anstrengung und List, mit der sie ihre weltberühmten Baudenkmäler und Kunstschätze vor Raub und Zerstörung zu bewahren suchte. Das Denkmal Peter des Großen, auf dessen Veranlassung die Stadt an der Newa aus den karelischen Sümpfen gestampft worden war, verschwand vom Dekabristenplatz und wurde hinter Sandsäcken und Brettern verstaut. Ganze Paläste wurden durch riesige grüne Tarnnetze in Parkanlagen verwandelt. Die Kunstschätze der Eremitage, dem kulturellen Heiligtum der Stadt, wurden hinter dem Ural in Sicherheit gebracht. Über eintausend Kisten mit einer halben Million Exponaten, Tausende aus ihren Rahmen gelöste Gemälde, in Watte und Korkschrot verpackte Plastiken und Statuen, verließen Leningrad bis zur Schließung des Blockade-Rings. Der Rest verblieb in den Kellern des Museums, die zugleich als Luftschutzräume dienten. In halsbrecherischer Arbeit verpaßten Alpinisten dem Turm der Admiralität, der wegen seines weithin leuchtenden Goldes ein ideales Zielobjekt für die gegnerische Artillerie war, einen „Rock“ aus derbem Sackleinen. Der Turm von Peter und Paul wurde ebenso wie die Kuppel von St.Isaak mit grauer Tarnfarbe übermalt. Und bis heute noch geehrt ist die „Blockade-Alpinistin“ Olga Firssowa, die noch im Bombenhagel an der Turmspitze arbeitete, dabei abstürzte und schwer verletzt wurde.
In der Stadt aber, in ihrem grandiosen Zentrum und Schaubezirk, erinnert kaum etwas an die Wunden des Krieges. Gleich nach Kriegsende sind die Leningrader daran gegangen, das Zerstörte zu restaurieren. Bereits 1944 begannen die Arbeiten zur Wiederherstellung der Eremitage, und schon am 4.November 1945 wurde das Museum in alter Pracht wiedereröffnet. Keine Ruine, aber auch kein modernistischer Stilbruch stört die fehlerlos wiederhergestellte Harmonie des Zentrums, dieses Gesamtkunstwerkes aus Palais und Palästen, Plätzen und Boulevards, Kanälen und Brücken, Kuppeln und Nadeltürmen, Säulen und Standbildern. Es dürfte wohl kaum eine kriegszerstörte Stadt in Europa geben, deren architektonisches Zentrum mit solchem Aufwand und mit solcher Perfektion restauriert worden ist. Manche barocken und klassizistischen Gebäude aus dem 18. und 19. Jahrhundert wurden, so sagen die Leningrader, sogar in einer das Originalbauwerk weit übertreffenden Qualität ausgeführt.
Wiederhergestellt ist die städtebauliche Harmonie, die Komposition der zum Ganzen geordneten Einzelteile, der weiten Perspektiven, die das Auge gleichwohl an markante Fluchtpunkte fesseln: an die alles überragende Alexandersäule in der Mitte des weiten, halbrunden Platzes vor dem Winterpalais; an die goldende Turmnadel der Admiralität und an die Goldkuppel der Isaak-Kathedrale, Wahrzeichen, die den Besucher auf allen Wegen durch die Stadt begleiten. Sie spiegeln sich im blaßblauen Wasser der Newa und reflektieren die hier immer schräg stehende nördliche Sonne. Im Jahr der Tausendjahrfeier werden viele orthodoxe Kirchen restauriert. Hinter turmhohen Gerüsten blitzt das Gold der Zwiebelhauben. Um das historische Stadt und Straßenbild zu erhalten, hat man sich auf eine besonders kostspielige Methode der Restaurierung eingelassen. Man entkernt die hinfälligen Häuser, reißt ab, was verkommen ist, und baut moderne Wohnungen hinter die stehengebliebenen Fassaden. Auch die neuen Wohnblocksiedlungen am Rande der Stadt, die kaum anders aussehen als die der Moskauer Außenbezirke, beeinträchtigen nicht das unvergleichliche Panorama und Weichbild dieses „Venedig des Nordens“. Denn für sie gilt das Höchstmaß, das Peter der Große den Gebäuden seiner Hauptstadt gesetzt hat: Es ist noch immer Bauvorschrift in Leningrad, daß kein neues Haus das Petersburger Stadtbild überragen darf.
Auch dem von Gogol, Puschkin oder Dostojewski besungenen Newski-Prospekt, der auf dem Platz vor dem Winterpalais beginnt, sieht man die Spuren der Zerstörung nicht mehr an. Der viereinhalb Kilometer lange Prachtboulevard ist mit seinen Barockpalästen, seinen exklusiven Restaurants und seinen Kaufhäusern, deren Auslagen üppiger sind als die in der Moskauer Gorkistraße, noch immer das Herzstück der Stadt. Aus den Metroschächten quellen die Menschenmengen empor, aus den dicht aufeinanderfolgenden Trolleybussen strömen sie heraus auf die breiten Trottoirs. Die jungen Leute tragen Jeans und Turnschuhe, Miniröcke und schwarze Spitzenstrümpfe. Westliche Mode ist hier wie überall in der Sowjetunion Trumpf. Wie auf Moskaus Arbad findet fast jeder Straßenmusikant, jede Rockgruppe, jeder Schnellzeichner und Scherenschnittkünstler sein dankbares Publikum. Die neue Freizügigkeit der „Glasnost„-Ära spricht vor allem aus den offenen und erregten Mienen der jungen Leute, die in kleinen Gruppen zusammenstehen und diskutieren, ohne sich von den danebenstehenden Polizisten stören zu lassen.
Biegt man von dem auch nachts noch beleuchteten Prachtboulevard in die Nebenstraßen ab, so eröffnen sich freilich andere Ausblicke: Die schmuddeligen Hinterhöfe in verkommenen Straßen und Häuser, von denen der Putz von den Wänden bröckelt, bilden einen herben Kontrast zu den glanzvollen Fassaden des Schaubezirkes. Und die tristen Mietskasernen werfen unwillkürlich die Frage auf, ob die Unsummen, die die Sowjetregierung nach dem Krieg für den Wiederaufbau der Paläste und Repräsentationsbauten ausgegeben hat, nicht auch zu Lasten derer ging, die hier noch immer in recht dürftigen und ärmlichen Verhältnissen leben müssen. Die Einschußlöcher an manchen Hauswänden lenken den Blick unwillkürlich in die Vergangenheit. An den oft müden und abwesenden Gesichtern der alten Leute läßt sich ablesen, daß diese sonst so pulsierden Stadt einmal ein kollektives Martyrium zu erleiden hatte, das der von ihrer südländisch-barocken Prachtentfaltung geblendete Besucher nur allzu leicht vergißt.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen