: „Gnade, Amnestie oder lebenslänglich?“
Der Streit um die „richtige“ Linie gegenüber den RAF-Gefangenen geht nach dem Hungerstreik weiter / Über tausend TeilnehmerInnen bei Kirchentagsveranstaltung / Justizsenatorin Limbach präzisiert die Rolle des EKD-Ratsvorsitzenden Kruse während des Hungerstreiks ■ Von Gerd Rosenkranz
Kaum war an jenem Freitag vor Pfingsten die erlösende Nachricht vom Ende des Hungerstreiks über die Agenturen getickert, richtete Jutta Limbach Dankesworte an den Vorsitzenden des Rates der EKD, den Westberliner Bischof Martin Kruse. Die SPD-Justizsenatorin rühmte Kruse wegen seiner „unermüdlichen Vermittlungsbemühungen“ im Verlauf der insgesamt 101 Tage dauernden Fasten-Tortur. Vergangenen Samstag präzisierte Frau Limbach vor über tausend ZuhörerInnen noch einmal Kruses Aktivitäten zu Zeiten äußerster Zuspitzung der Hungeraktion: Während dem rot -grünen Senat für seine kompromißbereite Haltung aus der Bevölkerung jede Menge „nacktes Unverständnis“ entgegenschlug, habe sich um Kruse und den Berliner Altbischof Kurt Scharf ein ständiger „Gesprächs- und Beratungskreis“ gebildet, der viel zur Lösung des Konflikts beigetragen habe.
Insbesondere ein Besuch des EKD-Ratsvorsitzenden bei der damals ins Haftkrankenhaus verlegten Gabriele Rollnik an ihrem 7o.Hungerstreiktag habe den Durchbruch mit ermöglicht. Erst nach und nach wird die zentrale Rolle sichtbar, in die die evangelische Kirchenleitung nach eher ängstlichem Start im Lauf der Hungerstreik-Auseinandersetzung hineinwuchs.
So war es zwar ein Zufall, aber irgendwie angemessen, daß die sicherlich größte Veranstaltung über die Haftsituation der RAF-Gefangenen seit Abbruch der Aktion am Samstag Kruses Basis vorbehalten blieb. In und um die restlos überfüllte Patmos-Kirche drängelten sich auf Einladung der Münchner Evangelischen Studentengemeinde weit über 1.000 KirchentagsbesucherInnen, um über die Frage „Gnade, Amnestie oder lebenslänglich“ für die Gefangenen zu debattieren. Die große Mehrheit des Publikums lag wohl noch in den Windeln, als die RAF-Gefangene Irmgard Möller 1972 verhaftet wurde: Die RAF lebt - als Gefangenen- und Opfermythos in der nachfolgenden Generation.
Auf dem Podium mochte sich niemand - selbst „Bommi“ Baumann, „EX-Gefangener und EX-2.Juni-Kämpfer“ (Baumann über Baumann) nicht - für eine generelle und bedingungslose Amnestie der RAF-Gefangenen aussprechen. Die Justiz sei ihnen gegenüber in der „Bringschuld“, meinte Baumann. Sie müsse nach fast 20 Jahren schlicht anfangen, „menschlich zu handeln“. Jutta Limbach nannte die Idee einer allgemeinen Amnestie „gefährlich“, weil damit das Rechtsbewußtsein der Bevölkerungsmehrheit „erheblich erschüttert“ würde - mit kaum absehbaren Folgen, etwa bei Wahlen. Es gehe jetzt darum, verstärkt Einzelfälle zu prüfen, den Gnadenweg weiterzuverfolgen, die Hochsicherheitstrakte wie jüngst in Berlin auch anderswo zu schließen und die Gefangenen in Gruppen zusammenzuführen. Zwar müsse am Normalvollzug als Ziel festgehalten werden, meinte die Senatorin; in „einem Schritt“ sei der jedoch nicht mehr zu haben, nachdem man die RAF-Leute bald zwei Jahrzehnte in ihrem Gefangenen -Sonderstatus gehalten habe. Der rheinland-pfälzische Justizminister Peter Caesar, selbst beteiligt an der Begnadigung Klaus Jünschkes und Manfred Grashoffs, lobte ausdrücklich die Begnadigung Angelika Speitels durch den Bundespräsidenten und die Ablehnung im Fall Peter-Jürgen Boock. Es komme nicht nur darauf an, daß jemand aussteigt, meinte Caesar, sondern auch der zeitliche Rahmen müsse vergleichbar sein mit Gnadenakten für „normale“ Gefangene.
Altbischof Kurt Scharf bedauerte bei Caesar und dem Bundespräsidenten die „berühmte Sorge um den Präzedenzfall“, die die Politiker vor einer weitergehenden Gnadenpraxis zurückschrecken lasse. Engagiert wandte er sich gegen das Abschwören als Voraussetzung für jeden Gnadenakt. Diese Bedingung ändere nichts an dem „Wagnis jeder Begnadigung“ und leiste lediglich politischer „Charakterlosigkeit“ Vorschub.
Derlei Überlegungen empfand Johannes Gerster, Mitglied der CDU/CSU-Fraktion im Bundestag, als Ungeheuerlichkeit. Dem Vorsitzenden des Bonner Innenausschusses blieb es vorbehalten, das Publikum an die mehrheitliche Stimmungslage im Bonner Parlament zu erinnern: lebenslänglich für RAF -Gefangene und „weiter so!“ bei der Terrorismusbekämpfung. An den Motiven des Hungerstreiks gibt es für Gerster nichts zu deuteln: „Die Gefangenen haben gesagt, das ist für uns eine Etappe im politischen Kampf und weiter nichts.“ Wütendes Aufheulen der jugendlichen „Gemeinde“. Darauf Gerster: „Der Frieden beginnt in diesem Saal.“ Antwort: „Es gibt keinen Frieden!“ - Dafür trägt auch Gerster Mitverantwortung.
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