: Mutters Küche und Jesus Christus
Michael Chang (17) gewinnt die French Open durch ein 6:1, 3:6, 4:6, 6:4, 6:2 gegen Stefan Edberg Nach dem Pariser Wettpfeifen eröffnen sich beim Tennis für den Klerus völlig neue Perspektiven ■ Aus Paris Matti Lieske
Frage: Was unterscheidet das Publikum auf dem Centre Court bei den French Open von einer Schafherde? Antwort: Schafe können nicht pfeifen.
Sport ist nicht zuletzt deshalb so beliebt, weil er dem Menschen Gelegenheit gibt, seinen stärksten Trieb auszuleben: den der Lärmerzeugung. Eine einfache, zweiwöchige Versuchsreihe im Tennisstadion von Roland Garros vermochte dies eindrucksvoll zu unterstreichen. Verhaltensforscher hatten, um die Reaktionen des Pulikums zu testen, eine Anlage installiert, die jedesmal einen Pfeifton abgab, wenn ein Aufschlag zu lang geriet. Und tatsächlich: jedem Pfeifen der Maschine folgte reflexartiges Pfeifen von den Rängen; und dies nicht nur einmal, was die Wissenschaftler noch als versuchte Komik bewertet hätten.
Nein, das ganze liebe lange Match lang pfiffen Mensch und Maschine um die Wette. So etwas würde nicht einmal eine Versuchsratte mit sich machen lassen. Und Ratten können pfeifen!
Ansonsten lieben es die französischen Zuschauer, während spektakulärer Ballwechsel in heftiges Murmeln und Zischen auszubrechen und im übrigen fortwährend Vornamen zu brüllen. „Boris“, „Jimmy“, „Mats“, schallt es da durchs weite Rund, so daß an Tennisspielen kaum noch zu denken ist. Nur bei den Finalisten verlegte sich das Publikum auf die Nachnamen. „Chang“ ist eindeutig bündiger und Edbergs Distanziertheit verbietet Vertraulichkeiten von selbst.
In Paris hatte der coole Schwede wohl zum ersten Mal gegen einen Spieler anzutreten, der noch gelassener wirkt als er selbst. Mit der Abgeklärtheit eines tibetanischen Klostervorstehers schreitet Michael Chang über den Platz und sieht manchmal so aus, als meditiere er darüber, ob er nicht den Weg des Lao-Tse einschlagen sollte, der das Nicht-Tun als höchste Tugend geprießen hatte. Sekunden später verwirft er diese Theorie, indem er wie ein aus der Kiste katapultierter Springteufel über das Feld schießt und genau dort ankommt, wo gerade der Ball ist.
Stefan Edberg hingegen begann das Finale genauso traumverloren, wie er wirkte. Chang entschärfte mit ausgeklügelter Taktik den hochabspringenden Aufschlag, mit dem der Schwede seine Kontrahenten Mancini und Becker arg drangsaliert hatte, indem er sich vor der Grundlinie postierte, den Ball noch im Hochspringen zurückschlug und Edberg so keine Zeit ließ, nahe genug ans Netz rücken. Im Handumdrehen gewann der 1,73 Meter kleine US-Bürger den ersten Satz mit 6:1.
Edberg hatte seinen Wecker offensichtlich erst auf Viertel vor vier gestellt; da hatte der zweite Satz gerade begonnen, und der Schwede war auf einmal nicht wiederzuerkennen. Er schlug gut auf, spielte von der Grundlinie souverän, griff in richtigen Augenblicken an und plazierte nach Belieben seine wunderbaren Volleys. Chang dagegen wirkte nun unsagbar müde. „Er muß eine außerordentliche Kondition haben, oder vielleicht sind diese Chinesen ja einfach so“, hatte Agenor, sein Gegenüber im Viertelfinale, gestaunt. Nun aber schien der 17jährige am Ende seiner Kräfte.
Edberg gewann die nächsten beiden Sätze und sah auch fast den ganzen vierten Satz hindurch wie der sichere Sieger aus. Beim Stande von 3:3 und eigenem Aufschlag lag Chang gar 0:40 zurück. Edberg konnte seine sämtlichen Breakbälle aber nicht verwerten, und endlich wurde das sogenannte ominöse siebte Spiel einmal seinem Ruf gerecht. Chang gewann es und holte sich zu aller Verblüffung mit 6:4 auch den Satz. Der „Kopf eines Champion“, den ihm sein Trainer Jose Higueras bescheinigt, hatte wieder zugeschlagen: „Chang kann sein Spiel, wenn es not tut, steigern. Bei den wichtigsten Punkten spielt er sehr gut.“
Im entscheidenden Durchgang war er plötzlich wieder obenauf und spritzig wie ein Knallfrosch. Mit seiner „gewischten“ Vorhand passierte er den Wimbledonsieger von 1988 ein ums andere Mal und scheute sich auch nicht, den 1,88 Meter großen Schweden mit wohlgezirkelten Lobs zu necken. Nach drei Stunden und 41 Minuten hatte Chang zwei Matchbälle, deren ersten Edberg eilig ins Netz beförderte, als wolle er die Sache schnell hinter sich bringen.
Die Sensation war perfekt, Michael Chang der jüngste Chinese, der jüngste US-Bürger, der jüngste Tennisspieler, der je ein Grand-Slam-Turnier gewann, und vermutlich der erste Mensch, der dafür Mutters Küche und Jesus Christus in aller Öffentlichkeit dankte.
Mit den nordamerikanischen Emporkömmlingen Chang und Agassi scheint eine Welle der Frömmelei über den Tenniszirkus hereinzubrechen, bei der zunehmenden Popularität dieses Sports eine beängstigende Entwicklung. Die Idendifikation mit den Idolen ist hoch, und es steht befürchten, daß an die Stelle kerniger Kriegsrufe wie „Boris, hau ihn weg“ bald getragene Bittchoräle den Aufschlag zum Matchball verzögern werden.
Das Publikum von Roland Garros dürfte jedenfalls freudig einstimmen, wenn im nächsten Jahr zu Ehren des Titelverteidigers gesungen wird „Oh Herr, sei mit uns, denn das Ende ist nah.“
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