: Chinas Trauer
Der chinesische Lyriker Bei Dao, der zur Zeit mit einem DAAD-Stipendium in West-Berlin lebt, kommentiert die Entwicklung in seiner Heimat ■ D O K U M E N T A T I O N E N
Am 3.Juni 1989 hat das chinesische Regime Soldaten gegen friedliche Studenten und Bürger eingesetzt und ein Massaker angerichtet. Abertausende wurden umgebracht, mehr als Zehntausend verletzt. Die Grausamkeiten während dieses Massakers übersteigen jedes menschliche Vorstellungsvermögen. Und bis zum heutigen Tag wird das Morden fortgesetzt. Dies ist eine der grausamsten Brutalitäten in der modernen Geschichte, für mich vergleichbar mit den Taten Hitlers.
Der Umfang und die friedliche Herangehensweise dieser Demokratiebewegung in Peking ist in der Geschichte selten. Die Demonstration von einigen Millionen Menschen verlief ganz im Sinne des Pazifismus von Mahatma Gandhi. Bis zur brutalen Niederschlagung wurde nicht eine einzige Fensterscheibe zerschlagen.
Das Regime bezeichnet die Bewegung als „Aufruhr“, als „konterrevolutionäre Aktion“. Wer hat je auf der Welt einen solchen Aufruhr gesehen? In einer Zeit, in der die ganze Welt sich hin zu mehr Entspannung, mehr Demokratie entwickelt, in der die Beachtung der Menschenrechte sich mehr und mehr durchsetzt, ist in der Hauptstadt eines Landes, das seine Politik als Reform- und Öffnungspolitik bezeichnet, Aufruhr nur schwer vorstellbar.
Die Studenten fordern Demokratie und bekommen eine Diktatur. Die Studenten verlangen Frieden und erhalten Kugeln. Warum? Ich glaube, jeder Chinese, jeder, der sich für China interessiert, stellt sich diese Frage. Hätten die Machthaber gewollt, hätten sie zahlreiche Möglichkeiten gehabt, den Konflikt zwischen ihnen und der Bevölkerung zu entschärfen. Aber nie haben sie ihre Chancen genutzt. Ich bin der Meinung, daß diese Unfähigkeit ihr Interesse widerspiegelt, die Denkschemata der Landesregierung offenlegt.
Die vor zehn Jahren begonnenen Wirtschaftsreformen bargen von Anfang an ein Zentralproblem: Zielgruppe der Reformen sind genau diejenigen, die die Reformen verantworten. Deshalb haben sie stets versucht, die Reformen auf den Bereich der Wirtschaft zu beschränken. Aus ihrer Sicht stehen das Wohl der Gesellschaft und ihre persönlichen Interessen nicht im Widerspruch. Je weiter die Reformen durchgeführt wurden, desto krasser trat allerdings der Widerspruch zum Gesellschaftssystem zutage. Die Notwendigkeit politischer Reformen wurde überdeutlich. Politische Reformen aber mußten für die Machthaber eine Bedrohung sein, galt sie doch gerade ihren intensiv gepflegten Privilegien. „Jede Macht ist zerstörerisch. Absolute Macht ist absolut zerstörerisch.“
Ein Regime, das 40 Jahre ohne jegliche Kontrolle an der Macht ist, dessen Korruption ist kaum vorstellbar. Das Privilegiensystem in China ist wie eine Pyramide aufgebaut. Je höher ein Kader auf der Karriereleiter steigt, desto mehr Privilegien bekommt er. Sobald diese Privilegien gefährdet sind, werden die Machthaber selbstverständlich mit allen Mitteln versuchen, ihre Privilegien zu halten. So läßt sich erklären, warum die Konservativen aus allen Machtkämpfen in den letzten Jahren stets als Sieger hervorgingen.
Hinzu kommt, daß die tatsächlichen Machthaber in China über 80jährige Greise sind. Sie symbolisieren gleichzeitig die Veralterung des Regimes, das sie repräsentieren. Ihre Denkweise ist starr, irrational und unlogisch. Die meisten der jüngsten Generation können diese Denkweise nicht nachvollziehen. Nach den Vorstellungen der Partei ist die Kommunistische Partei Chinas im großen und ganzen eine Bauernpartei. Ihre Machthaber gehören fast alle noch zu der ersten Generation der KPCh. Das starr am einmal Erreichten festhaltende Bewußtsein der Gründungszeit ist heute eine Stütze des Hierarchie-, ja Monarchiedenkens. Ein in der chinesischen Geschichte häufig zu beobachtendes Phänomen. Sobald der Thron des Kaisers erreicht ist, betrachten die auf ihm Sitzenden das Volk als eine wertlose Kleinigkeit, die unter ihren Füßen steht. Ihre Vorstellungen von der Ausübung ihres Amtes sind entsprechend einfach: Entweder gönnen sie dem Volk etwas oder es wird unterdrückt. Jeder, der ihre Herrschaft anzweifelt, ist in ihren Augen ein Rebell, der ideologisch oder gar physisch vernichtet werden muß.
In Wirklichkeit braucht die gesellschaftliche Entwicklung aber Dialog- und Kompromißbereitschaft. Am Anfang der Demokratiebwegung haben die Studenten den Dialog mit der Regierung gesucht. Der Beginn war zögernd, zaghaft, aber es war ein Anfang. Die Haltung der Regierung war eher passiv und - wie sich später herausstellte - nicht ehrlich gemeint. Dabei wäre dies eine Chance gewesen. Aber die greisen Machthaber ertrugen offenbar den Gedanken nicht, ihre Gesprächspartner gleichberechtigt zu behandeln. Sie sind es gewöhnt, nur von oben nach unten zu gucken und entsprechend zu handeln. So haben sie jetzt ihre Augen zugedrückt und die falscheste aller Entscheidungen getroffen - die brutale Niederschlagung der Bewegung. Das chinesische Volk zahlt für die Ignoranz der Machthaber einen hohen, einen zu hohen Preis.
Ich bin zutiefst besorgt. Ich befürchte, daß die blutigen Auseinandersetzungen zu einem historischen Teufelskreis führen könnten. Im Kampf von Gewalt gegen Gewalt entsteht oft eine Diktatur. Hier zeigt sich die Tragik der chinesischen Geschichte: schrittweise Reformen sind nie geglückt. Aber eines ist sicher: Ein Bewußtsein für Demokratie und Freiheit entwickelt sich im chinesischen Volk, es wird jede dunkle Kraft herausfordern. Die totalitäre Politik der Machthaber nähert sich ihrem Höhepunkt, der ihr Untergang sein wird - dem Faschismus.
Aber ich glaube, daß sich heutzutage ein Regime, das nur von Lügen und Terror lebt, nicht lange an der Macht halten kann.
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